Niemals unterschätzt werden darf die Bedeutung von Begegnungen mit Fremden. Gerade Vertrauen trägt einen weiter, als man denkt.

Es begann heute um 15:00. Ich surfte gelangweilt auf Facebook, als ein Bekannter mir einen Freundschaftsvorschlag schickte zu einem David […], der mir völlig unbekannt war. Ich erinnerte mich, dass ich diesen Bekannten mal gefragt hatte, ob der Juden aus Münster kennt, und verstand diese Empfehlung als Antwort. Ich bot besagtem David eine Facebook-Freundschaft an.

„Vielen Dank für die Freundschaftseinladung, aber wie kommst du auf mich?“, schrieb er wenige Minuten später im Chat. Ich erklärte ihm die Situation. Ja, sagte er, er sei tatsächlich in der Münsteraner Gemeinde. Für mich war das gefundenes Fressen, suche ich doch schon ewig nach jemandem, der mich dort einführt.

„Kann ich zum nächsten Shabbat-Gottesdienst kommen?“, fragte ich. Er sagte, er wolle heute eh spätenstens um halb 6 zur Synagoge, da könne ich ihn ja auch schon treffen. Ich lag zu diesem Zeitpunkt noch im Nachthemd auf dem Bett, aber warum nicht, dachte ich mir. Mein Freund reagierte auf diese Neuigkeit etwas ungehalten. So: „Du willst WAS? Du kennst ihn doch gar nicht! Du kennst ja nichtmal euren gemeinsamen Bekannten persönlich! Was sind das für ominöse Typen!? Du kannst doch nicht alleine da hin gehen?“ Ich bin doch gegangen. Wie froh ich bin.

17:00 traf ich ihn vor der Synagoge. David stellte sich als außergewöhnlich freundlicher Mensch heraus, er gab mir nicht nur eine Privatführung durch die Gemeinderäumlichkeiten, sondern zeigte mir auch, wo ich meine Mitgliedschaft beantragen konnte und führte mich danach noch mit in ein Eiscafé. Wir saßen mehrere Stunden da und unterhielten uns über Politik, Humor, Psychologie, Menschen, Computer, Juden und Nichtjuden. Unter Anderem erbot er sich, mir auf der Suche nach einem Praktikumsplatz zu helfen und ich will mich für die Verjüngung der jüdischen Gemeinde engagieren.

Ich habe nicht nur einen Menschen, sondern voraussichtlich einen ganzen Kreis von Menschen getroffen, die mir gleichgesinnt sind, meinen Humor verstehen, meine Werte teilen. Ein Geschenk. Aber das war nicht das Ende.

David brachte mich zum Hauptbahnhof, wo ich noch eine Weile auf den Bus warten musste. Ich klappte meinen Laptop auf und surfte – dankbar- auf facebook. Ich schreckte auf, als zwei Polizisten um mich herum standen.

„Entschuldigung, fühlen Sie sich hier sicher?“, fragte ein junger Mann mit der Statur eines Ziegelsteins und dem Hemd eines Ordnungshüters.
„… Ja…“, stammelte ich verwundert.
„Wissen Sie, hier am Bahnhof laufen allerlei Typen herum und Sie locken sie mit dem Laptop ziemlich an. Da geht einer vorbei und reißt ihn Ihnen aus der Hand, und dann stehen Sie da. Da können Sie nichts machen. Stecken Sie ihn lieber weg.“

Ich bedankte mich für den Hinweis und steckte verlegen mein Netbook ein. Ich vertraue Menschen zu sehr.
„Sie hat nicht nachgedacht“, entschuldigte sich eine Frau im mittleren Alter für mich, mit einem Lächeln auf ihren russischen Gesichtszügen. Als die Polizisten fort waren, starrte sie nachdenklich auf die Straße und sagte: „Früher war das hier nicht so. Man war sicher. Aber die letzten fünf Jahre… Es ist vieles anders geworden.“
„Woher kommen Sie?“, fragte ich.
„Aus Kasachstan.“
„Ah, und ich aus der Ukraine“.
„Studieren Sie hier?“, fragte sie mich dann nahtlos auf russisch.

Das weitere Gespräch führten wir dann auch auf russisch. Ich erzählte ihr, wie ich Politik mache, um die zunehmende Verarmung zu verhindern. Sie erzählte mir von ihren Töchtern in meinem Alter. Ich erzählte ihr von der Selbstausgrenzung der Juden. Sie fragte mich, warum dieses Volk immer leiden muss. Wir sprachen, unter welchen Bedingungen wir nach Deutschland gekommen waren. Sie als Aussiedlerin und ich als Jüdin. Sie sagte, dass sie mich schon am Aussehen und an der Sprache erkannt habe, Juden sprächen anders als Russen. Sie werde wegen ihrer dunklen Hautfarbe selbst für eine Jüdin gehalten. Ich sagte, dass ich ganz weiße Haut und fast blondes Haar habe, während meine Eltern eher dunkel sind. Da erzählte sie mir eine Geschichte:

Es gab mal ein Mädchen, das hatte dunkle Haut und schwarzes Haar, obwohl die Eltern beide blond waren. Alle wunderten sich, warum sie so aussah, und sie selbst betete oft, dass sie blond sein möge, wie ihre Eltern. Als sie ihr Studium abgeschlossen hatte, ging sie als freiwillige Aufbauhelferin in den nahen Osten. Zuerst wurde sie abgelehnt, weil sie die Sprache nicht sprach. Aber sie lernte die Sprache und trug die Kleidung der einheimischen. Schnell wurde sie mit ihrer dunklen Haut und ihrem schwarzen Haar akzeptiert. Wäre sie blauäugig gewesen, wäre ihr Weg unendlich schwerer gewesen.

„Gott hat jedem von uns seinen Platz zugedacht und dafür hat Er alles vorbereitet“, schloss die Frau die Geschichte mit einem listigen Flackern in ihrem intelligenten Blick. Und ich sagte: „Wie wundervoll ist es, Fremden zu begegnen.“

Sie gab mir Tipps für russische Läden, in denen ich günstig Pelmeni kriege und ich stieg aus dem Bus aus. Sie hatte gesagt, dass sie nicht wisse, wofür sie mir begegnet ist. Aber ich weiß es. Dieser Gedanke, warum ich blond bin, baut mich auf. Und wäre ich nicht so vertrauensvoll gewesen und hätte den Laptop mitten am Bahnhof benutzt und die Polizisten hätten mich nicht angesprochen, dann wäre ich dieser ungewöhnlich warmen Frau nie begegnet und ich hätte niemals solche Gedanken gehabt, wie ich gehabt habe.

Wunder geschehen. Punkt. Das ist einfach so.