Ich habe lange nicht mehr geschrieben, weil ich die Zeit zum Lernen brauchte. Zum Lernen vom Leben. Und wieder habe ich etwas gelernt:
Deutschland wird China niemals Konkurrenz machen können.

Aber beginnen wir am Anfang.

Am Anfang war die Wissenschaft. Das „Studium der Naturwissenschaften“ schloss damals wirklich noch alle Naturwissenschaften ein. Ich spreche hier vom 19. Jahrhundert, als ein Arzt auch noch ein Physiker war und Biologen zufällig bedeutende Entdeckungen für die Chemie machten. Dann wurde aber das Wissen zu umfangreich. Man trennte die einzelnen Wissenschaften und erschuf Mathematiker, Physiker, Biologen, Mediziner…
Als dann der Aufwand des Lernens immernoch zu groß war, unterteilte man Mediziner in Chirurgen, Internisten, Urologen, Endokrinologen…
Das ist der heutige Stand. Tendenz sinkend.

Warum?
Ich durfte diese Odyssee mit meinem Bruder verleben. Es begann mit Bauchschmerzen. Man untersuchte und untersuchte und untersuchte an seinem Bauch herum und fand (selbstverständlich) nichts. Dann kamen Schlafattacken hinzu. Wieder wusste keiner, was er damit machen soll. Es stellte sich aber langsam heraus, das mein Bruder sich in der Schule nicht wohl fühlte, nicht motiviert war. Ein Besuch beim Psychologen. Höchstbegabung. Interessant.
Aber das war erst der Anfang. Was macht man nun mit einem Jungen, der zwar „höchst begabt“ ist, aber keine simple Addition hinbekommt? Sozial unfähig erscheint?

Wir waren in der Schule und haben versucht, von dort aus etwas zu regeln. Aber in der Schule sagte man uns, seine Schlafattacken und Bauchschmerzen müssten zuerst behandelt werden. Wir waren bei Ärzten, aber die sagten, es sei psychisch, er müsse zum Psychologen. Wir waren bei Psychologen, aber die sagten, das Problem liege in der Schule und die Änderung müsse dort geschehen. Ein Teufelskreis.

Es ist, als ob eine Ware, bei der etwas nicht in Ordnung ist, zu einem Fließbandarbeiter kommt; aber der kennt nur die Schraube, die er anziehen muss. Die ist nun offensichtlich nicht das Problem, also reicht er die Ware weiter zum nächsten. Wenn das Problem auch nicht an seiner Schraube liegt, klar: Er reicht weiter.
Wir leben in einer Gesellschaft des Weiterreichens.

Was im 19. Jahrhundert in tausenden von Manifakturen Alltag war, erleben wir jetzt an den Universitäten, in den Krankenhäusern und in der Regierung des Landes. Weitreichende Verantwortlichkeit stirbt aus, niemand kennt mehr die Ware als Ganzes. Den Menschen als Ganzes.

Dass dies nicht notwendig ist, zeigt das Beispiel anderer Länder. In Russland, von wo ich als einziges fundiert berichten kann, wird heute noch Wert auf die Allgemeinbildung (im fachspezifischen Sinne) gelegt. Ich kann das gut an einem Beispiel illustrieren.

Meine Mutter hat einen russischen Bekannten, der in Deutschland als Arzt praktiziert. Die ganze Geschichte ist nun recht zufällig. Er hilft seiner Schwester bei einem Umzug. Ebenfalls dort ist ein Bekannter seiner Schwester, der seit langem über starke Schmerzen in der rechten Hand klagt. Natürlich ist sie schon von vorne bis hinten durchuntersucht, ausgekundschaftet, durchleuchtet und behandelt. Man hat ihm testweise eine nach der anderen Salbe verschrieben, nichts half. Jener Arzt also bemerkt nach einem harten Arbeitstag des Schleppens, dass der Mann einen sehr starken Glanz in den Augen hat, einen ungesunden Glanz, der seiner Erschöpfung nicht gerecht wird. Und fragt den Mann: „Haben Sie husten?“ „Nein“, erwidert erstaunt der andere. Unser Arzt empfielt ihm dennoch, seine Lunge mal untersuchen zu lassen.
Fazit nach einer Untersuchung: Lungenkrebs im Endstadium mit einer Metastase in der rechten Hand.

Dieses Beispiel soll nicht aussagen, dass russische Ärzte besser sind als deutsche. Sie soll zeigen, wie wichtig es gerade in Medizinischen Berufen ist, einen Überblick über das Ganze zu behalten. Und während sich die Leute schmachtend die genialen Schlussfolgerungen von Dr. House ansehen, sollte diese Art von Diagnose eigentlich in allen Krankenhäusern Gang und Gebe sein.

Warum ist es das nicht? Sind Deutsche dumm?
Nein. Effizient.

Es ist eine schnelle und ökonomische Arbeitsweise, jedem ein Gebiet zuzuordnen, auf dem er Spezialist ist, und alles andere den anderen zu überlassen. So gibt es so gut wie keine Wissensüberschneidung, man hat also Wissen gespart. Und das bedeutet, Energie, Zeit und Geld. Es fängt ja schon mit dem Lernen in der Universität an.
In den Seminaren meistens: Lernen durch Referate. Zehn Sitzungen, zehn Kleingruppen, die zu jeder Sitzung einen Text in ein Referat ausarbeiten. Den anderen Referaten müssen sie nur zuhören. Und innerhalb der Kleingruppen wird der Text natürlich nochmal unterteilt, und jeder bearbeitet nur seinen Teil. So muss – Gott sei Dank – ein Student sich nur mit höchstens 10 Seiten Text pro Seminar herumschlagen. Effizient, nicht wahr?
Dass er das andere Wissen dabei nur periphär mitbekommt, ist nicht so schlimm. Immerhin haben sich ja seine Kollegen damit auseinander gesetzt. Und an die kann er im Zweifelsfall weiterreichen.

Das könnte alles fast funktionieren, beinhaltet aber ein Problem. Wenn niemand den Überblick behält, ist weder Qualität noch Kreativität gewährleistet. Und das sind gerade die beiden Dinge, durch die Deutschland sich seine Position in der Weltwirtschaft erwarbeitet hat.
Denn in effizienter engstirniger Fließbandarbeit können wir weltweit Milliarden armer, unterbezahlter Arbeitskräfte nicht das Wasser reichen.

Schade eigentlich.