Aus aktuellem Anlass dachte ich viel über schlechte Laune nach. Das heißt nicht, dass ich sie hatte. Ich hatte seit etwa zwei Jahren nicht mehr wirklich schlechte Laune. Nicht diese Art von schlechter Laune, wie man sie als Pubertierender entwickeln kann, in der man die Welt, den Konsum, Verwandte und Kätzchen hasst.

Aber als ich jünger war, hatte ich viel davon. Ich war ein unausstehlicher Jugendlicher, misantropisch und pessimistisch. Mein Bewertungsspektrum reichte von „kotzt mich total an“ bis „nicht so schlecht, wie ich erwartet hatte“.
Das ging so bis zu meinem Abitur. Dann weiß ich nicht, was passiert ist. Entweder es waren banale Sachen – ich konnte von zuhause ausziehen, ich beendete die Schule, ich habe eine Therapie zuende gebracht – oder es war genau jener magische, einzigartige Moment, den ich erlebte, als ich „Krieg und Frieden“ von Tolstoj las.

Es war der Abend vor meiner Mathematik-Klausur. Ich fürchtete Mathe schon immer und war ziemlich aufgelöst. Ich las in dem Buch. Fürst Andrej Bolkonskij war in der Schlacht von Borodino bei den Reservetruppen, ging auf und ab, pflückte Ästchen von Büschen, roch daran, vertrieb sich die Zeit. Eine Granate sauste auf ihn hernieder und riss ihn hinfort. Und es ist der Fürst Bolkonskij, von dem wir sprechen. Ich habe geweint. Ich dachte: „Er ist tot. Er ist entgültig tot, alles was ihn ausgemacht hat, alles was er war, ist jetzt entgültig vorbei. Sein Wesen und seine Gedanken sind erloschen für die Ewigkeit. Nie wieder wird er diese lächerlichen Ästchen vom Busch pflücken, um daran zu riechen. Nie wieder sieht er den Mond an, den Himmel, der über uns steht und uns die Allmacht Gottes vorführt. Nie wieder atmet er banal Luft ein, um sich frei zu fühlen. Diese kleinen Wunder menschlichen Daseins sind erloschen. Und ich mache mir Sorgen um eine Mathematikklausur!“

So oder so ähnlich dachte ich, als meine Großmutter anrief und besorgt fragte, was passiert sei. Als ich ihr in Tränen erklärte, dass Andrej Bolkonskij gestorben ist, lachte sie und erzählte mir, dass meine Mutter ihr vor genau 20 Jahren in Tränen genau dasselbe gesagt hatte. Verwandtschaft.

Jedenfalls ging mein Abiturball danach schief. Ich habe so hart für Mathe gelernt (es wurden 15 Punkte), um bloß über einen Schnitt von 1,9 zu kommen. Dann dürfte ich mit auf die Bühne, unter den besten, bekäme ein Geschenk von der Schule etc. Erfolg. Und tatsächlich erreichte ich mein Abitur damals mit einem Schnitt von 1,6. Ich war furchtbar stolz und glücklich. Der Abend war wunderbar, ich war gut gekleidet, gut gelaunt, mein Freund war da… Wir aßen nach der ersten Veranstaltungsrunde lecker Chilli con Carne, doch als ich den Saal wieder betrat… wurde gerade der letzte mit einem 1,…-Schnitt auf die Bühne gerufen.
Ich hatte den Moment, auf den ich ein halbes Jahr lang hinarbeitete, auf den ich gehofft, von dem ich geträumt hatte, den ich mir als mein Ziel gesteckt hatte, verpasst.
Für Chilli con Carne. (Es war lecker!)
Ich weinte schrecklich und verließ den Ball vorzeitig, in meinem rosa Kleid an Natascha Rostowa erinnernd. Mein Freund tröstete mich gerade nach Kräften, als ich aufblickte und über der Stadthalle den Mond sah und alle diese Gedanken und dieses erhabene Gefühl kehrten zu mir zurück und ich wusste plötzlich, dass dieses „Ziel“ eine Orientierung gewesen war und dass ich meinen Erfolg diesem Ziel zu verdanken hatte. Aber nun, da ich den Weg gegangen war, hatte das Ziel seine Bedeutung verloren und musste nicht mehr eintreffen. Ich lebte immernoch und ich hatte immernoch die Möglichkeit, glücklich zu sein. Die Luft stand unveränderlich um mich herum, ob ich meinen Moment nun hatte oder nicht. Für die Welt machte das keinen Unterschied. Und für mich auch nicht mehr, und ich lachte.

Ich denke, dass das die Universallösung für diese Art von schlechter Laune und Verzweiflung, begründet oder unbegründet, ist. Ob man nun an Gott glaubt und es Gott nennt, oder einfach nur „Das Wichtige“, „Das, was zählt“, „Eine Metaebene“ oder wie auch immer nennt. Dort hin kann men jederzeit, jederzeit zurückkehren. Das ist die dem Menschen geschenkte Freiheit. Und dort sieht man die Dinge von oben und alles erscheint so unwichtig im Vergleich zu diesem größten aller Geschenke, das wir besitzen und immer besitzen werden; bis in den Tod; das keiner uns nehmen kann.

Ich habe nichts neues entdeckt. Viele haben es schon gesagt, veräußert, in verschiedenen Sprachen und Weisen. Einige nannten es „heiliger Geist“, andere „Zen“, wieder andere „Harmonie“ und vierte „verdammt nochmal einfach nur Glück“. Es ist dieser Zustand, in dem die Probleme drohen, einen zu überrennen und man lacht auf und sagt: „Ich lebe, also ist es gut.“

Ich wünsche jedem, der das Gefühl nicht kennt, dass er es kennen lernen möge. Ich wünsche jedem, der es kennt, dass er es nie vergisst. Hier liegt das Glück.

Die blinde Alina schaut Schnee an.