Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit existiert seit 1957. Sie besteht zu etwa 95% aus Christen und sorgt sich darum, dass irgendjemand in Deutschland möglicherweise den Holocaust vergessen könnte. Damit das nicht passiert, singen sie, veranstalten Touren durch Konzentrationslager und jüdische Wohnviertel und feiern beispielsweise am 12.12. die erste Deportation aus Münster. Alles, damit Juden und Christen wieder friedlich zusammenleben können.
Diese Gesellschaft hat der jüdischen Gemeinde Münster auch einen Chanukka-Leuchter gestiftet, der öffentlich und zentral auf dem Maria-Euthymia-Platz steht und acht Tage lang nach und nach entzündet wird. Nicht einfach so, natürlich. Die erste Kerze wurde am 1. Dezember unter Medienpräsenz entzündet, und zwar von unserem Gemeindevorstand gemeinsam mit Bürgermeisterin Vilhjalmsson, die eine geklonte Rede von einem Zettel abgelesen hat, ohne den Blick zu heben, während wir frierend um sie herumstanden und uns das Ende herbeisehnten. In dieser Rede sagte sie diese Dinge, die man dann halt so sagt: Dass die Flamme der Kerze für das Licht der Hoffnung steht, dass diese schreckliche, schreckliche Zeit in Deutschland überwunden sei, dass sie unser Herz erwärmen soll. Seltsam. Ich dachte, Chanukkah hätte etwas mit der Wiedereinweihung des Tempels zu tun… Aber egal. Holocaust.  Die Bürgermeisterin half, die erste Kerze zu entzünden, stellte sie auf den Leuchter, nahm sie nach einer Bitte vom Fotographen wieder runter und tat noch einmal so, als ob sie sie draufstellen würde.
Die ganze Veranstaltung hinterließ bei einigen aus der Gemeinde ein flaues Gefühl. Wir begannen uns zu fragen, wer da eigentlich wen zu was eingeladen hat und wozu wir da waren. Keiner von uns hatte das Gefühl, einen eigenen Feiertag zu begehen. Aber das macht nichts! Immerhin werden wir geliebt und akzeptiert. So sehr, dass man sich auf Pressefotos mit unserer Präsenz schmückt! Das geht anderen anders. Den Moslems zum Beispiel.

Die muslimische Bevölkerung Deutschlands hat es im Moment nicht leicht. Ich werde jetzt nicht groß auf Sarrazin eingehen, von dem ja viele sagen, er persönlich habe dieses Fass geöffnet. Das ist mir egal. Seit es jedenfalls offen ist, lese ich in Kommentaren zu Online-Artikeln in verschiedenen Zeitungen (vorn dabei ist die Spiegel online) Sätze wie:

„Man sollte alle kriminellen Ausländer ausweisen.“

„Die Muslime haben hier nichts verloren. Alle ausweisen, und zwar mit ihren Familien. Und wenn sie einen deutschen Pass haben, dann muss man ihnen den wegnehmen.“

„Warum sind sie nicht da geblieben, wo sie hergekommen sind?“

„Man wird doch als Deutscher noch sagen dürfen, dass man von dem Gesocks einfach zu viel hat.“

Das sind Sätze, die so in den 1920ern salonfähig waren und es jetzt wieder sind. Und niemand weist darauf hin. Stellen Sie sich mal vor, was für ein Gerede entstanden wäre, wenn auch nur einer soetwas über Juden gesagt hätte… huiui. Und heute gab es in Berlin-Tempelhof einen Brandanschlag auf ein muslimicshes Kulturzentrum. Zum Glück sind viele Deutsche nicht so geneigt, Muster einer Situation zu lernen, sondern nur deren äußerliche Merkmale.

Studien mit Schülern zeigen, dass sie bei einer Mathematikaufgabe gelerntes Wissen nicht auf eine andere Aufgabe, die mit anderen Größen hantiert, übertragen können, weil sie nur nach oberflächlichen Gemeinsamkeiten suchen. Wenn sie wissen, wie die Größe eines Teppichs zu berechnen ist, der einen rechteckigen Raum bedecken soll, können sie deswegen noch lange nicht die Menge an Dachziegeln berechnen, die man braucht, um ein rechteckiges Dach zu decken.
Wenn sie gelernt haben, dass man jemanden nicht verachten und verfolgen soll, weil er jüdisch sind, begreifen sie noch lange nicht, warum Hass gegen Muslime etwas Schlechtes sein soll. Natürlich werden die toleranten Menschen beides nicht tun. Jeder, der sich die Geschichte halbwegs zu Herzen nimmt, wird sich davon distanzieren, irgendjemanden ausweisen zu wollen, nur weil er einer ethnischen Gruppe angehört. Aber ich spreche hier nicht von Einzelpersonen. Ich spreche von Reaktionen der Gesellschaft.

Misst man an der deutschen Paranoia, bloß nichts Falsches zu sagen oder zu tun, reagiert die Gesellschaft auf die Muslim-Debatte ziemlich gelassen, um nicht zu sagen, sie steigt gut drauf ein. Und das ist, was ich nicht verstehe. Dass an diesem Ende heile Welt gespielt wird, indem man zusammen mit der jüdischen Gemeinde in die Kamera lächelt, es aber in der öffentlichen Diskussion völlig normal geworden ist, abfällig von „denen“ zu sprechen.
Ich weiß, zwischen unseren Völkern und Glaubensrichtungen ist nicht alles in Ordnung. Aber dieses Nichtinordnung findet woanders statt. Hier in Deutschland sollten gerade Juden verstärkt für muslimische Rechte eintreten. Allein schon, weil sie es können. Weil sie die Stimme dafür haben und das Gehör finden. Und weil sie genau wissen, wovon sie reden. Wenn das deutsche Volk eine Warnung aus irgendjemandes Mund ernst nimmt, dann aus diesem.

Und was wollen wir mit dieser Warnung erreichen? Nicht, dass die Kritiker und „Rechten“ schweigen. Ich finde, das ist ein ganz falscher Ansatz, ihnen einfach den Mund zu verbieten und zu erwarten, dass dann alles in Ordnung ist. Fremdenfeindlichkeit ist ein Symptom. Ein Symptom von sozialen und wirtschaftlichen Schieflagen. Diese Schieflagen müssen korrigiert werden. Durch Fremdenfeindlichkeit wird das nicht passieren, es ist bloß eine natürliche Reaktion. Und eine Verständliche dazu. Ich wäre auch nicht zufrieden, wenn in meine Heimatstadt plötzlich lauter Fremde kommen, sich von meinem Geld ernähren, meine Kultur untergraben und meine Sprache nicht lernen. Nein, die wahre Antwort liegt in einem langfristigen Prozess, der angestoßen werden muss:

  • Bildung muss verbessert werden. Gebildete Deutsche schieben nicht so leicht alle Probleme auf die „bösen Fremden“, gebildete Immigranten beteiligen sich mehr an der Gesellschaft und mehren deren Wohlergehen.
  • Integrationsanreize müssen geschaffen werden. Zwingt die Leute nicht, vom ersten Tag an Deutsch zu lernen. Gebt ihnen Informationen über Hobbies, Schulsystem, Arbeitsmarkt auf ihrer Sprache. Der erste Schritt ist, dass sie partizipieren wollen, und danach werden sie die Sprache von ganz allein erwerben.
  • Immigrationsgesetze müssen reformiert werden. Wie erwähnt kann ich voll und ganz verstehen, warum viele Deutsche sich empören, wenn ungebildete und teilweise (ja, das kann ich aus persönlichen Bekanntschaften bestätigen) arbeitsunwillige Leute ins Land kommen, die sich dann vom Staat ernähren lassen. Man muss gerade für die Gebildeten Leute als Land attraktiv sein. Australien und Kanada arbeiten da mit Punktesystemen. Andererseits sind viele gar nicht so ungebildet, ihre Abschlüsse werden durch ein starres Papiersystem nicht anerkannt, sodass sie ihrem eigenen Beruf nicht nachgehen dürfen. Das muss aufgelockert werden.

Allein schon diese Punkte würden die Situation für die Beteiligten unglaublich erleichtern. Wenn ich von meiner russischen Nachbarin höre: „Wenn ich das Haus verlasse, fühle ich mich, als gehe ich in den Krieg“, dann bekomme ich eine Idee davon, welcher Alptraum Migration ist, wenn man nicht die Möglichkeit hat, sich zu integrieren. Wenn man sich auf jeden Smalltalk mit einem Deutschen wie zu einer Schlacht rüstet, welche Energie kann man dann haben, sein Kind sinnvoll in der Schule zu unterstützen oder sich gar einen deutschen Freundeskreis zu suchen?

Ich will nicht auf diverse Migrationsvorschläge abdriften. Ich will nur hierauf hinweisen:

Alle haben es schwer. Alle haben recht, und alle haben Rechte. Aber Hass, schimpfen und meckern wird die Situation genauso wenig retten, wie ausweisen. Macht es einander nicht so schwer, geht auf die anderen zu, respektiert sie und fordert von ihnen Respekt. Bei den Juden klappt es doch auch…  Lasst bitte diesmal bloß den schmerzlichen Auftakt weg.