Edit: Dieser Blogpost ist, wie alle um ihn herum, entstanden, als ich jung und dümmer war. Ich kann das Wort „gesunder Menschenverstand“, das arme geschundene, nicht mehr verwenden, ohne dass mir ein kalter Schauder den Rücken herunter läuft.

 

Liebe Piratenpartei,

du hast einen Klienten. Einen schwierigen Klienten, wenn ich das hinzufügen darf. Die Zukunft.
Und zwar natürlich eine ganz bestimmte Zukunft.

Dein Klient ist eine Zukunft, die du dir wage vorstellen kannst. Sie basiert auf der Gesellschaft, die heute im Internet ihre Geburt erlebt und qualitativ anders sein wird, als die Gesellschaft des vergangenen Jahrhunderts. Sie wird die Revolutionen, Verwirrungen, den Befürchteten Verlust der Moral, die Veränderungen und Missverständnisse verarbeiten und ein neues, stichhaltiges Konzept daraus schaffen, wie der Mensch funktioniert.

Sie wird vermutlich jedem eine Stimme verleihen und die Lautstärke dieser Stimmen einer Selbstregulation überlassen, wie es heute in Netzwerken wie Twitter modellarisch passiert. Sie wird eine Art Evolution der Meinungen etablieren. Sie wird neue Massenmechanismen besitzen, die Dinge wie Politik und Gesellschaft verändern wollen.

Du bist der Anwalt dieser Zukunft und das ist gar nicht so leicht.

Wenn wir von Visionen sprechen, sprechen wir oft von unterschiedlichen Visionen. Die einen wollen den Überwachungsstaat verhindern, sie wollen, dass alle anonym und dadurch frei sind. Die anderen wollen, dass die Politik und die Wirtschaft besser überwacht werden. Die meisten wollen beides zugleich, weil es kein Widerspruch ist. Die einen wollen eine neue Gesellschaft formen, die anderen wollen das Urheberrecht so verändern, dass Daten kopierbar sind.

Und dann gibt es natürlich noch die, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, dich, die Piratenpartei zu formen. Sie möchten, dass diese ganze Arbeit perfekt optimiert wird. Es soll basisdemokratisch sein, jeder soll etwas zu sagen haben. Gleichzeitig soll es aber auch schnell gehen. Gleichzeitig sollen alle Daten aller Mitglieder aber auch geschützt sein. Die einen wollen nicht von den Wurzeln (freies Internet) weg, die anderen fordern eine drastische Ausweitung der Themen. Eigentlich besteht die Piratenpartei aus etwa 1500 Parteien, aber das kann nicht funktionieren.

Und diese unsere Unterschiede, die wir eigentlich gut finden und tolerieren wollen, führen zu großen Problemen. Einige sprechen von einem Stillstand der Politikarbeit insgesamt. Auf den Mailinglisten wird sich nur noch um Satzungskonflikte und Partei-Regelungen gestritten.

„Das ist kein Piratenthema“, „Das ist nicht basisdemokratisch“, „Du kapierst einfach gar nichts und hast in der Politik nichts verloren.“

Die meisten sagen zeitgleich, dass das alles ein Kindergarten ist und so nicht weiter gehen kann. Alle sagen es. Selbst die eifrigsten Verfechter ihrer Meinung. Das ist aber nun auch nicht gerade konstruktiv.

Was ist dann konstruktiv? Wie kann man bei diesen Wetterverhältnissen noch Politik machen?

Mein Vorschlag dazu ist ein ganz einfacher. Konstruktiv ist es, sich umzusehen. Such die Probleme, die es in Deutschland oder in deiner Stadt gibt. Die kleinen, die einzelnen. Es gibt genug davon.

Such dir Leute, die sich mit diesen Problemen auskennen oder davon betroffen sind. Such Experten und sprich mit ihnen. Möglichst mit allen Parteien.

Arbeite mit deinem Kreisverband oder mit deiner Crew oder von mir aus mit deinen Nachbarn und dem Hund und der Hilfe von Experten eine Lösung für dieses Problem aus.

Kannst du schon von deinem Ort aus über die Kommunalpolitik, über Aktionen oder die Presse etwas Ändern? Gut. Dann tu es.

Kannst du es nicht? Dann fahr zum Bundesparteitag und stell deine Lösung dort zur Abstimmung.

Und übersieh die Mailinglisten und den Streit darauf. Empör dich nicht, wenn jemand, den du unterstützt, beleidigt worden ist. Unterstütze diejenigen, die du magst und lasse die, die du nicht magst, in Ruhe.

Denn gerade die Gegensätzlichkeit der Ideen in Verbindung mit unserer besonderen Struktur ist ja das, was an der Piratenpartei bestechend ist:

Es ist eine Partei, die erstmal alles als potentiell gut anerkennt und jede Idee hört. Wenn alle mitsprechen dürfen, kommt am Ende optimalerweise etwas heraus, das mit gesundem Menschenverstand zu tun hat. Denn es ist nicht die Idee von wenigen, die durch Medien oder durch Machtstrukturen etablierter Parteien künstlich gepuscht wird. Wer eine schlechte Idee hat, wird viel Kritik ernten. Wer eine gute Idee hat, der wird sich bei den meisten damit durchsetzen können. Und das ist genau der Punkt an Demokratie.

Die einführung des Liquid Feedback als internetgestütztem Werkzeug zur Meinungbildermittlung wird einer der Meilensteine auf diesem Weg sein und uns viele Türen öffnen.

Sicher, das alles kann auch scheitern, aber erstmal ist es ein Experiment mit großen Aussichten. Und das muss uns allen zu jeder Zeit bewusst sein.

Liebe Piratenpartei,

ich will an dich eine Forderung stellen. Ich möchte, dass du durch die dir gegebenen Strukturen und durch die Überzeugung deiner Mitglieder zu einer Partei des gesunden Menschenverstandes wirst. Ich möchte, dass du selbst das Beispiel jener Gesellschaft wirst, für die du kämpfst. Ich wünsche mir, dass viele deiner Mitglieder sich von meinem stumpfsinnigen Optimismus anstecken lassen und einfach anpacken.

Grüße und Küsse,

deine Marina

Anhang I

Hier im Kuschelverband Münster wollen wir jetzt einfach mal damit loslegen und gucken, wie gut es geht. Da wir zur Zeit so motiviert sind, laden wir auch die inaktiven Münsteraner sehr herzlich zu unserem Arbeitsstammtisch am Dienstag, den 03.08. ins Piratenbüro ein. Es wird um Dinge gehen.

Anhang II

Mailinglisten sind kein Medium, auf dem Politik gemacht werden kann. Das sind sie einfach nicht. Wirklich.