Ich bin eine dieser nervigen Gutmenschen-Personen. Eine naive Gläubige an das allgemeine Gute in der Welt und im Menschen. Ich bin jemand, der, wenn er keine zwei Euro für den Spind hat, seine Sachen in den unverschlossenen Spind legt und in die Bibliothek geht, in der Überzeugung, dass niemand, sogar wenn er sie dort findet, sie nehmen wird.

Und bisher hatte ich immer recht.

Und nun, liebe Leser, stellen Sie sich bitte folgendes vor: Ich falle gestern Abend auf dem Bahnhofsvorplatz in Ohnmacht – und man klaut mein Portemonnaie!

Ich hätte das bisher nicht einmal für möglich gehalten. Tatsächlich habe ich es auch zu dem Zeitpunkt nicht für möglich gehalten. Ich gehe dort mit meinem niedrigen Blutdruck und Blutzucker von 80 entlang, mir wird schwindelig, ich verliere das Bewusstsein. Als ich aufwache, bin ich wie üblich von einer Menschenmenge umringt, eine ehemalige Krankenschwester überredet mich, liegen zu bleiben und ein Mann ruft einen Krankenwagen. Ich richte mich stur und gegen die Wehr der Frau auf, greife nach meiner Tasche – aus der offenen Tasche schlittert der Inhalt – die Frau tut den Inhalt wieder hinein und gibt mir die Tasche. Einige freundliche Leute warten die vielen (!) Minuten, bis der Krankenwagen eintrifft und helfen mir hinein. Beschreiben die Situation. EIne halbe Minute bin ich vielleicht bewusstlos gewesen.
Im Krankenwagen überzeuge ich die Sanitäter nach der Untersuchung davon, dass keinerlei Grund besteht, mich ins Krankenhaus zu fahren und sie lassen mich gehen. Ich gehe zur Bushaltestelle, will eben meinen Fahrschein herausholen – und er ist weg. Und nicht nur er. Ausweis, Studentenausweis, Krankenkassenkarte, ec-Karte, Cafeteriakarte, 150 Euro bar… alles weg. Und auch noch ein Bild, das ich gerade zum Zeichnen gebraucht hatte.
Natürlich habe ich das zur Anzeige gebracht und die ec-Karte sperren lassen.
(Wartemusik – *freundliche stimme* „Guten Abend, Krause*, was kann ich heute für Sie sperren lassen?“)

Da bin ich also nun. Mit meinem Glauben an die Menschheit. An die Deutschen, die hilfreichsten Menschen der Welt. Sind sie wirklich so nieder, dass sie einer ohnmächtigen jungen Frau, die nichteinmal aussieht, als hätte sie viel, das Portemonnaie aus der Tasche ziehen? Wie weit ist es mit der Moral in unserer Gesellschaft her? Sind die Menschen in Wirklichkeit doch unsere Feinde?

Nein!

Wenn ein Einzelner soetwas getan hat, bedeutet es, dass man Menschen nicht trauen kann? Ja, vielleicht hat jemand meine Geldbörse genommen, vielleicht sogar in böswilliger Absicht. Aber eine andere Frau hat ihren Bus verpasst, und ihr Fachwissen angewandt, um mir zu helfen. EIne andere Frau sprach mir gut zu und beruhigte mich, obwohl sie mich nicht kannte. Ein anderer Mann rief einen Krankenwagen und wartete die ganze Zeit am Straßenrand auf ihn, obwohl er am Bahnhof sicherlich besseres zu tun gehabt hätte. Andere Menschen hielten an und fragten, ob alles in Ordnung sei. Sie schenkten mir Freundlichkeit und beruhigung. Und das tun sie jedes mal, wenn soetwas passiert, egal, wo es passiert.
Und als ich weinend den Platz absuchte, ob es nicht doch irgendwo dort liegt, rutschte ein alter Mann geduldig zur Seite auf seiner Bank und tippte mit der Hand auf den leeren Platz neben sich. „Setzen Sie sich erstmal, Kindchen. Beruhigen Sie sich.“ Und als ich ihn um zwei Euro für den Bus bat, holte er seine Brieftasche heraus und gab mir den letzten Euro, der sich darin befand. Buchstäblich. Und als ein Mädchen neben mir das sah, gab sie mir unaufgefordert den zweiten.

Können all diese Menschen, all diese guten Herzen, von einem einzigen, gewissenlosen Menschen übertönt werden?

Nein, das können und das dürfen sie nicht. Denn das wäre ungerecht, das wäre ein Sieg des Bösen.

Ich glaube weiterhin an die Menschheit.