Nach dem Terroranschlag von Halle saß ich unvermittelt in der Sendung bei Maybritt Illner und war mit folgendem Problem konfrontiert: Ich muss erklären, dass der Täter kein Einzeltäter war. Dass er offensichtlich Verbindungen zu einer internationalen rechtsradikalen Szene hatte. Aber wie sollte ich das begründen? Dass er in seinem Manifest Memes dieser Szene benutzte? Dass er bewusst die Streaming-Plattform Twitch genutzt hatte? Dass er Verschwörungstheorien aus Incel-Foren wiedergab? All das konnte ich nicht. Denn Frau Illner hätte mich, bestimmt ebenso wie die @mediasres-Redaktion gebeten: „Können Sie diese Wörter den Zuschauern bitte mal erklären?“

Schwierig. Denn es sind ja nicht nur Wörter. Es sind ganze Konzepte dahinter, die neu sind, weil sie im digitalen Zeitalter eine neue Qualität erreichen können. Deshalb gibt es ja auch keine einfachen deutschen Übersetzungen dafür. Natürlich lässt sich jedes einzelne davon erklären. Aber nicht in den dreißig Sekunden Redezeit, die man in einer Talkshow pro Antwort hat. Nicht mal in dieser dreiminütigen Kolumne. Das nimmt Zeit ein, die man mit Analyse verbringen müsste.

Memes, Twitch, Incel-Foren – wir sollten genaue Hintergründe kennen

Und überhaupt, muss denn die ganze Bevölkerung wissen, wie Memes funktionieren, also diese geteilten Witze, die von eingeweihten aufgenommen und in modifizierter Form immer wieder weitergegeben werden? Ist es nicht fast Definition sowohl der Jugendkultur, als auch von extremistischen Subkulturen, dass sie nicht verstanden werden? Ist breite Aufklärung über diese Orte, wo die beiden sich treffen, wirklich notwendig?

 

Gut, die ermittelnden Behörden müssen natürlich gut über sie aufgeklärt sein. Besser, als sie es jetzt sind. Gut, Pädagogen in der Extremismusprävention müssen darin geschult werden. Sicherlich auch Lehrer. Die müssen aufmerksam werden, wenn ihre Schüler bestimmte Ausdrücke oder Symbole verwenden, die harmlos wirken, aber politische Bedeutung tragen. Therapeuten müssen diese Strukturen verstehen, um vorbereitet zu sein auf eine völlig neue Dimension organisierter Online-Gewalt und ihrer Auswirkungen. Je länger man nachdenkt, desto mehr Zielgruppen betrifft es eigentlich. Aber die ganze Gesellschaft?

Grundlagen verstehen, um Demokratie zu beschützen

Letztlich läuft es aber auf zwei Punkte hinaus. Erstens. Nur die gesamte Gesellschaft kann Extremismus wirklich effektiv eindämmen. Durch das, was wir an Normen entwickeln. Durch das, was tabu ist. Dadurch, wie inklusiv unsere Gesellschaft ist. Es ist im Wesentlichen eine Frage von Überzeugung. Es ist aber an vielen Stellen eben auch eine Frage des Verständnisses, wie Rechtsradikale vorgehen, um sich ihnen effektiv in den Weg stellen zu können. Wenn es uns an Begriffen mangelt, mit denen wir Radikalisierungsprozesse beschreiben können, bleiben nur Fassungslosigkeit und Schweigen. Die Debatte verläuft dümmlich auf dem Niveau, dass Computerspiele gewaltbereit machen oder dass das Internet überwacht gehöre oder dass das Dark Web irgendwie schuld sei.

Zweitens ist es schlicht eine Frage des Respekts gegenüber der Jugendkultur. Die junge Generation ist politischer, als die vor ihr es war. Meistens zum Guten. Sie nutzen diese neuen Möglichkeiten der globalen Vernetzung auch für sinnstiftenden Dialog und für gute soziale Interaktion. Sie sind gezwungen, unsere Konstrukte von Ökonomie, Ökologie, Politik und Ungerechtigkeit zu lernen. Wir sollten ihnen den Respekt erweisen und über das lernen, was sie täglich leben und was sie bewegt. Und dazu gehören eben auch die Begriffe, die sie benutzen, und die Konzepte, die dahinterstecken. In unseren Zeiten dürfen wir niemals aufhören zu lernen. Auch, um Menschen und die Demokratie zu schützen.

Source: Online-Rechtsextremismus – Ein Phänomen, dessen Sprache wir nicht verstehen