Der Tag war ein verregneter, grauer Novembertag. Ich stieg gerade aus dem Bus am Bahnhof, da sah ich dich. Ein Mädchen, kaum 25, in einem dünnen Wollmantel mit blauem Schal.
Du hattest dich kurz an die Haltestelle gesetzt und schminktest eilig deine Wimpern mit schwarzer Tusche nach. Dann stecktest du den Handspiegel in deine Jackentasche und hobst die schweren Tüten vom Boden auf. Sie hatten in deinen Fingergelenken vermutlich schon blaue Druckstellen hinterlassen. Du überquertest die Straße, bliebst stehen, um die Fahrräder vorbei zu lassen, und betratst das alte Gebäude des Bürgerbüros. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um ihn vor dem Regen zu schützen.
Du sahst nicht unglücklich aus. Deine grauen Augen überflogen kurz die Strecke, und du gingst weiter.
Niemand außer mir sah dich an.
Wie lange lebst du schon dieses Leben, Unbekannte?
Ach, du wirst eines Tages Kinder gebären, sie werden wachsen und irgendwann im Streit sagen, dass sie dich hassen, und du wirst Gespräche mit ihren Lehrern führen. Du wirst immer bei Edeka an der Schlange stehen du wirst nie darüber nachdenken, warum alles so gekommen ist, wie es ist; du wirst nur darüber nachdenken, ob du das Abendessen zeitig schaffst.
Du trägst die Einkäufe, die Stehlampe, den Kratzbaum nach Hause; du stehst in überfüllten Bussen. Du liest Verträge, du wartest in Wartezimmern, du triffst Entscheidungen.
Niemand wird dir helfen. Und dabei werden deine Wimpern immer geschminkt sein.
Du wirst morgens eine halbe Stunde eher aufstehen, und Rouge auf deine blassen Wangen legen und zum Vorstellungsgespräch gehen.

Unsichtbare Heldin des Alltags.
Sie werden dich alle immer dafür bewundern, wie hübsch du bist; wie klug und fröhlich.
Sie werden vor ihren Freunden mit dir angeben.
Aber sie werden nie wissen, was du mit deinen zierlichen Händen tust.
Als ich dich sah, wollte ich dir ein kleines Denkmal aufstellen.