https://youtu.be/s6UOhm8QAAQ

Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass wir von diesem vom Drehbuch der 1930er abweichen. Die antifaschistischen Großemonstrationen überall in Deutschland, vor allem aber auch die kleinen Demonstrationen in den AfD-Hochburgen im Osten, haben mir Hoffnung gegeben. Denn so mobilisiert war die Breite der Gesellschaft vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht. Und das ist eine Chance. Wir müssen diese Chance jetzt aber nutzen. Die Menschen haben gesprochen in einer beeindruckenden Demonstration demokratischer Aktivität. Diese Aktivität darf nicht versiegen, bis zumindest die Minimalforderung erreicht wird. Ein Verbotsverfahren gegen die AfD. Wie sehr die Politik auf diese Forderung hört, wird auch zeigen, ob unsere repräsentative Demokratie tatsächlich repräsentiert. Und damit, wie überlebensfähig sie ist.„Aber Marina! Ein AfD-Verbotsverfahren könnte die AfD nur stärken! Besonders wenn es scheitert!“Wenn ein AfD-Verbotsverfahren die AfD stärken würde, würde sie es heimlich anstreben. Aber sie scheint ziemlich viel Angst davor zu haben. Wenn ein Verbotsverfahren eine Partei stärkt, warum strebt die SPD dann kein SPD-Verbotsverfahren an? Seltsam!Ein AfD-Verbotsverfahren wäre gut für die Demokratie und schlecht die AfD – selbst wenn es scheitert!Erstens lenkt ein Verbotsverfahren das Augenmerk auf alle Aussagen, die grundgesetzwidrig sein können. Das schränkt die AfD ziemlich darin ein, was sie öffentlich sagen kann. Es hindert sie daran, Rassismus weiter zu enttabuisieren. Ihre radikaleren Mitglieder werden sauer auf die Führungsrige ob ihrer weichen Sprache. Es wird interne Konflikte geben. Die Partei insgesamt wird geschwächt. Zweitens hat ein Verbotsverfahren gegen eine Partei eine normative Wirkung. Es ist ein Signal das sagt: diese Partei ist keine normale demokratische Partei. Was sie da sagt, ist nicht normal. Sicher, der harte Kern wird sich umso fester um die Partei sammeln. Aber die Leute, die eigentlich nicht radikal sein wollen? Die sich selbst erzählen, dass sie eine normale demokratische Partei wählen? Die werden eher abgeschreckt. Und in denen liegt ja das Wachstumspotential der AfD. „Aber es wäre richtiger, die AfD inhaltlich zu stellen!“Wieder und wieder und wieder zeigen Studien, dass rassistische und populistische Bewegungen völlig unempfindlich gegen Argumente sind. Weil sie nicht für ihre Argumente gewählt werden. Sie verkaufen ein Gefühl des Hasses und der Enttäuschung. Dagegen gibt es kein rationales Argument. Debatten mit rechten Parteien stärkt rächte Parteien. Das Übernehmen ihrer Positionen in abgeschwächter Form stärkt rechte Parteien, und nicht etwa Parteien der sogenannten Mitte, die an Unterstützung verlieren, sowohl von Leuten, die lieber das Original wählen als auch von Leuten, die … nunja, keine rassistische Politik wählen wollen. Die AfD ist nicht zum Diskutieren gekommen. Sie ist gekommen, um den Debattierclub anzuzünden. Je länger wir naiv darüber sind, desto mehr Macht wird sie gewinnen – bis es keine öffentliche Plattform mehr gibt, auf der man irgendwas politisch infrage stellen kann. Es gibt in Deutschland 20-25 Prozent latente Antisemiten und Rassisten. Die gab es in den 90ern und in den 2000ern und eben auch jetzt. Das ist nicht, was sich verändert hat. Was sich verändert hat, ist, dass sie sich jetzt trauen, viel offener zu sprechen – und dass sie jetzt eine politische Repräsentation haben. Das ist, was man bekämpfen muss. Man muss ihre Positionen wieder tabu machen. Man muss ihnen Staatsgelder entziehen. Was sie privat in ihren Küchen denken, ist mir völlig egal. Ich will sie von der Regierungsbank fernhalten. Wir haben dieses Instrument des Parteiverbots in unserem Grundgesetz für genau diesen Fall. Aus genau der Lehre, dass man eine Demokratie mit demokratischen Mitteln zerstören kann. Wir haben die Möglichkeit, nein, die Verpflichtung es anzuwenden.  Und dann? Wie machen wir jetzt weiter, wo wir gesehen haben, dass es Nährboden für einen Vertrauensverlust in die Politik gibt? Dass eine rechte Partei Mehrheiten in Deutschland sammeln kann? Was tun wir jetzt mit all der demokratischen Energie, die auf diesen Demos zusammengekommen ist? Der Erfolg der Demos bestand darin, dass sie so ein riesiges Bündnis sein konnten mit einem kleinen gemeinsamen Nenner: wir wollen keine menschenfeindliche Politik. Über alles andere können wir uns streiten, aber das wollen wir nicht. Wir haben einen Zusammenhalt erlebt. Uns gegenseitig versichert: wir sind nicht allein. Wir sind wirkmächtig. Wir finden Schutz und Halt in einander. Diese Demos werden nicht reichen. Das hier ist kein Sprint, das hier ist ein Marathon. Leute werden Pläne an Wochenenden haben, sie sind erschöpft von der Arbeit, sie werden sich über Regierungspolitik ärgern. Der Widerstand ist nicht zuverlässig. Und: es wird nicht reichen, die AfD zu verbieten. Das ist ein notwendiger, aber kein hinreichender Schritt, um die Demokratie zu schützen. Denn sie  hat reale blinde Flecken, die Rechtsextreme ausnutzen. Man tut jetzt in Talkshows und in fast allen Parteien so, als sei der blinde Fleck „Migrationspolitik“ und diskutiert darüber. Während die Demos liefen verabschiedete die Regierung ein Gesetzt für eine striktere Regelung der Staatsbürgerschaft. Dabei ist das ein Kardinalsfehler. Von einem „Migrationsproblem“ zu sprechen, wie das in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow der Fall war, ist genau die Erzählung der AfD. Es ist genau, womit sie stimmen sammelt. Hand aufs Herz: wer von euch hat in seinem eigenen Leben ein großes, konkretes Problem, das irgendwas mit Migrationspolitik zu tun hat? Wenn ihr mal schaut, was euch im Alltag ärgert: hat das irgendwas mit Migranten zu tun? Das ist nichts als ein Ablenkungsthema. Hier ist meine radikale These: Das ständige Reden über die AfD und über ihre Themen stärkt sie eher. Der beste Kampf gegen Rechts ist, nicht über Rechte zu sprechen.Huch! Worüber dann? Wir haben zu einem starken Zusammenhalt und einer hohen Strahlkraft gefunden mit einem kleinsten gemeinsamen Nenner. Es ist aber nicht der einzige Nenner, den viele Menschen gemeinsam haben. Es gibt andere, recht unkontroverse Themen, die die meisten Menschen unterstützen würden.Zum Beispiel: die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Die reichsten Deutschen haben in den letzten Jahren ihr Vermögen verdoppelt, während Politiker sich darüber prügeln, wie am besten an den Ärmsten gespart werden kann. Menschen können mit ihrem Gehalt effektiv weniger kaufen und werden teilweise von sozialerer Teilhabe ausgeschlossen. Wäre es nicht an der Zeit, ebenso prominent über eine Vermögenssteuer zu sprechen, um die Lücken im Haushalt zu stopfen? Statt darüber, wie wir das Bürgergeld sanktionieren können und an den Ärmsten sparen?Oder: Es ist recht universell anerkannt, dass Bildung das wichtigste Kernelement eines zukünftig erfolgreichen Staates und von Chancengleichheit ist. Gleichzeitig ist es unstrittig, dass im Bildungssystem zu wenig Geld, zu wenig Personal, zu wenig Zeit ist. Das wäre eine haushaltspolitische Debatte, oder? Nicht nur Sonntagsreden zur Wichtigkeit von Bildung, sondern eine tatsächliche Neubewertung der Wichtigkeit von Schulgebäuden, von multiprofessionellen Teams, von Verwaltungsfachkräften in Schulen? Mir fällt kein einziger Mensch ein, der ernsthaft dagegen sein könnte, trotzdem haben wir keine prominente, aufgeregte Diskussion jeden Abend in Talkshows. Oder: Wir haben immernoch eine gravierende Pflegekrise, die damit zu tun hat, welche Anreize Krankenhäuser finanziell haben und dass Pflegeersonal schreckliche Arbeitsbedingungen erfährt. Das ist unstrittig. Und es geht uns alle an – früher oder später.Wäre es nicht an der Zeit, dass wir unseren Kampfgeist gegen die AfD nehmen und ihn darauf richten, die eigentlich wichtigen Themen wieder in den Mittelpunkt der Politik zu stellen? Eine Demo für ein neues Schulgebäude. Briefe an Abgeordnete schreiben für eine Vermögenssteuer. Diese verdammte Schuldenbremse infrage stellen.Natürlich ist das alles eigentlich die Arbeit gewählter Politiker*innen und der Massenmedien, deren Job ja eigentlich die Einordnung der Themen nach Wichtigkeit ist und nicht das Breittreten der Erzählung des Tages. Aber hey, wenn die es nicht von sich machen, können wir es fordern. Ja, Briefe machen Druck. Höflich, argumentiert, handsigniert. Demos machen Druck. Protestaktionen machen Druck. Es ist unsere Aufgabe, die repräsentative Demokratie repräsentativer zu machen. Der Jugend eine stärkere Stimme zu geben. Den Armutsbetroffenen, den schwächer vernetzten Menschen! Der Kommunalpolitik! Es gibt tausend Baustellen, an denen ihr morgen mit anpacken könnt. Und keine davon muss sich um AfD-Wähler drehen oder um Exklusion von Menschen. Ihr seid die Experten eurer Lebensbereiche. Wenn die Politik das nicht abbildet, dann müssen wir es aufzeigen. Laut. Und zusammen sind wir laut. Es wird Zeit für neue Bündnisse, die sich um tatsächliche Themen der Zukunft drehen. Wie wollen wir leben? Wenn unsere Demokratie nicht sterben soll, dann muss sie sich entwickeln. Lebendiger werden. Inklusiver werden. Jetzt. Also tut heute etwas, das ihr euch gestern nicht zugetraut hättet.