Read the English version here

Als Donald Trumps Pressesprecher Sean Spicer bei seiner ersten Pressekonferenz im Weißen Haus entgegen allen offensichtlichen Tatsachen behauptete, die Zuschauermenge bei der Amtseinführung Trumps sei die größte aller Zeiten gewesen, fühlte ich mich auf seltsame Weise an die Erzählungen meiner Mutter über unser Leben in der Sowjetunion erinnert. Damals sprach man im Fernsehen von Rekordproduktionen in der Landwirtschaft, während die Bevölkerung in den Läden vor leeren Regalen stand. Ich hatte nie verstanden, warum ein Staat lügen sollte, wenn sich die Lüge doch so leicht, ohne ein anderes Hilfsmittel als den eigenen Augen, widerlegen ließe. Müssten die Menschen nicht aufbegehren gegen einen so billigen Versuch, sie hinters Licht zu führen?

 Die Wahrheit ist aber, dass hinter den sowjetischen Lügen von damals, wie auch hinter den Lügen Trumps von heute, System steckt. Ein funktionierendes System. Ich spreche hier nicht von den üblichen Täuschungen, die jede Regierung verbreitet, indem sie die Wahrheit zumindest schönt. Ich spreche nicht von Kriegsrechtfertigungen, die nur mit geheimen Dokumenten zu widerlegen wären. Die besondere Qualität dieser Lüge à la Trump besteht darin, dass sie ohne jede Vorbildung, nur mit der Kraft der eigenen Wahrnehmung, von jedem durchschaut werden kann. Es ist gewissermaßen ihr Zweck, der Wahrnehmung zu widersprechen.

Der Mensch neigt dazu, neue Informationen mit dem eigenen Wissen abzugleichen. Stimmen sie mit dem überein, was man bereits weiß, bestärken sie das eigene Wissen. Widersprechen sie sich, entsteht kognitive Dissonanz. Das ist ein unangenehmer Zustand, den Menschen zu vermeiden versuchen, indem sie ihr eigenes Wissen den neuen Fakten anpassen. So lernen wir. Widersprüchliche Informationen sind deshalb so unbeliebt, weil sie kognitive Dissonanz erzeugen – die auszuhalten Ressourcen kostet. Das ist besonders zum Problem geworden, seit Informationen im Internet gesammelt werden können. Im Netz kann jedes Foto verfälscht sein, kann völlig aus dem Zusammenhang gerissen worden sein. Die Verwirrung und Belastung durch die Vielfalt der widersprüchlichen Information in den sozialen Medien sind ohnehin gewaltig. Nun kommt der Kniff der Lügner hinzu, dieses Potenzial bewusst zu instrumentalisieren.

Wenn ich Ihnen sage: „Der Himmel ist grün“, dann ist es gar nicht so sehr mein Ziel, dass Sie mir auf Anhieb glauben. Mein Ziel ist es vielmehr, so häufig zu behaupten, der Himmel sei grün, bis Ihre Ressourcen, den Widerspruch auszuhalten, erschöpft sind und Sie einlenken und sagen: „Das ist Ihre Meinung. Ich denke, der Himmel ist blau. Es gibt wohl keine Möglichkeit, die Farbe des Himmels objektiv festzustellen.“ Steter Tropfen höhlt den Schädel. Das Ziel offensichtlicher Lügen ist der Beweis der Machtlosigkeit von Wahrheit; die Verschiebung des Diskurses, sodass alles plötzlich infrage gestellt wird.

Und es funktioniert. Als ich diesen Mechanismus vor Kurzem auf Twitter beschrieb, wandten einige Nutzer ein, dass der Pressesprecher nicht gelogen habe, und unterlegten das mit Fotos der Zuschauermenge aus der Perspektive des Podiums. Eine wilde Diskussion entbrannte über die Zahl der Zuschauer und über Kameraperspektiven – obwohl es eine Tatsache ist, dass weniger Menschen da waren als bei der Amtseinführung Barack Obamas 2009.

Nun scheint die Lüge über die Anzahl von Zuschauern bei einer Amtseinführung als relative Kleinigkeit. Sie erreicht aber Großes. Erstens ist es eine Machtdemonstration: Man präsentiert den Medien neue „Fakten“ und schaut, wer sie brav nacherzählt; der Rest hat mit Repressionen zu rechnen. Zweitens vertrauen wir unseren Sinnen weniger als zuvor. Wir streiten über Dinge, die eigentlich offensichtlich sind. Mit ständigem Widerspruch konfrontiert, resignieren wir erschöpft – und offensichtlich Falsches schleicht sich zunächst in den Bereich des Denkbaren und dann in den Bereich des Faktischen. Ist dieser Mechanismus erst einmal etabliert, fällt es leicht, auch bei größeren Themen zu lügen. Zum Beispiel: „Alle Muslime sind kriminell“ – und plötzlich fangen wir an, uns über Kriminalitätsstatistiken zu streiten, anstatt die Errungenschaft zu verteidigen, dass Verdacht aufgrund von Geburt oder Religion keinen Platz in einer Demokratie hat.

Angesichts von solchem Irrsinn trauen viele Menschen mittlerweile manchmal ihren eigenen Augen und Ohren nicht. Doch gerade das ist es, was Leute wie Donald Trump beabsichtigen. Es ist ein Kampf gegen die Vernunft. Die Wahrnehmung ist das, worüber die Menschen die Kontrolle haben. Sie sinnvoll einzusetzen, lehrte die Aufklärung. Der Versuch, sie dem Menschen wegzunehmen, ist also ein antiaufklärerischer Akt. Die Mitglieder einer freien Gesellschaft müssen sich jeden Tag gegenseitig aufs Neue versichern, dass dieser Irrsinn nicht normal ist. Dass Lügen Lügen sind. Dass wir als Gesellschaft bestimmte Prinzipien haben, über die wir nicht diskutieren und deren Infragestellung nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.

Die neuen rechten Regierungen und Parteien zwingen demokratische Gesellschaften derzeit dazu, den Kampf um bereits ausgefochtene Wertenoch einmal zu führen. Diesen Kampf zu verlieren wäre schlicht fatal. Anfangen müssen wir damit, unserer Wahrnehmung und unserer Vernunft zu vertrauen. Totalitäre Methoden müssen als das benannt werden, was sie sind. Es gilt, ihnen entgegenzutreten.

Dieser Artikel erschien am 28.01.2017 als Gastbeitrag in der ZEIT.