Der Herbst hat nun vollständig, entgültig Einzug genommen, und nichteinmal die größten Optimisten können den Winter jetzt noch leugnen. Der Himmel ist überzogen von grauer, kalter Milch, die müden Bäume werfen ihr braun-oranges Laub in nassen Haufen auf die Straßenränder. Die ganze Welt ist gewaschen, ist kühl und duftet angenehm nach rottendem Laub.
Ich selbst habe heute meinen roten Herbstmantel angezogen. Auf dem Weg zur Universität steckte ich mir die Kopfhörer meines mp3-Players in die Ohren und hörte französischen Chanson. Die Pianoklänge untermalten den Wind, der meine Haare durcheinander warf, spielten mit den fallenden goldenen Blättchen, färbten das Grau der Luft warm. Als ich über die Brücke ging, floss unter mir das ruhige Wasser, in dem rote und gelbe Blätter wie Schiffe trieben, immer im Takt, eine einheitliche, vollkommene Schönheit.
Ich wurde mir mitmal folgender Sache bewusst: Das Mädchen, das mir auf dem Fahrrad entgegenkam, hatte ebenfalls Kopfhörer in den Ohren. Der junge Mann, der mit mir in den Bus stieg, auch. Viele Menschen.
Ich frage mich, was sie wohl hörten. Hörten sie Rock, der ihre Aufmerksamkeit aus der Welt stahl? Hörten sie traurige Filmmusik, die jeden Menschen, dem sie begegneten, in ihrem Geist mit einer tragischen Geschichte verband? Sahen sie mich tänzeln? Passte mein Tänzeln wohl zu ihrem Takt? Wie sieht ein Mädchen in einem roten Herbstmantel aus, für jemanden, der Jazz hört, oder für jemanden, der Metal hört? Wie sieht die Welt meiner Mitmenschen wohl aus?
Ich kann es nicht wissen. Sie tragen Kopfhörer, und ich kann nicht hineinhören, was sie hören.
Genauso wenig, wie ich in ihre Gedanken sehen kann.
Da kommen Fragen auf, die sich mir schon einmal stellten:
Ist es nicht schade, wenn man Mitmenschen nicht mehr lachen hört sondern nur noch sieht?
Geschieht Kommunikation tatsächlich nur noch elektronisch?
Hören die kopfhörertragenden Leute das Auto kommen von dem sie gleich überfahren werden, weil sie abgelenkt den Verkehr – an dem sie teilnehmen – nicht mehr wahrnehmen?
Ist Vogelgezwitscher im Frühling inzwischen so störend, dass man Ohrstöpsel braucht?
Ein Ton ist ein Ton; was ist künstlicher am Anschlagen einer Klaviertaste als an einem Schritt über die Brücke?
Ich höre selten Musik. Sonst würde es mich vermutlich nicht so beeindrucken. Aber ist etwas unnatürliches darin, hin und wieder etwas anderes zu vernehmen, als immer nur dasselbe? Der eigene Schritt wird mit der Zeit gewohnt, vertraut, und dann nimmt man ihn auch nicht mehr war, ob nun mit Kopfhörern oder nicht.
Seine Welt aber um eine neue Erfahrung zu bereichern, darin finde ich nichts verwerfliches.
Sie sich sogar in den Farben seiner Stimmung anzumalen, durch Musik, durch Kleidung, durch Beleuchtung – ganz gleich! Dieser Mensch ist ein Künstler, der das schafft.
Kunst besteht ja eben darin, über den Naturzustand hinaus zu sehen. Etwas hinzuzufügen. Etwas Eigenes.
Denn uns wurde diese Freiheit geschenkt.
Diese Leute gibt es hier in Oldenburg auch. Eigentlich ist kaum jemand mehr ohne Kopfhörer unterwegs.
Ich kann dir nicht sagen, was sie hören.
Aber ich kann dir sagen, das sie nicht hören:
Die Welt um sich herum.
Sie lauschen künstlichen Stimmen und Klängen und denken nicht im Traum daran, dass die Geräusche um sie herum vielleicht viel interessanter sind.
Wann hast du selbst das letzte Mal deinen Schulweg gehört?
Das Geräusch deiner Tür, wenn du sie zuziehst, das Blatt in den Rahmen schlägt und das Schloss einschnappt. Das Klirren des Schlüssels, wenn du abschließt.
Deine Sohlen auf der Treppe, was im Haus widerhallt?
Wie die Gummireifen deines Fahrrads über die Stufen schirgen, wenn du es aus dem Keller schleppst.
Ich finde die Höflichkeit der Busse in Münster faszinierend. Sie knicksen für jeden, der ein- oder aussteigt. Hilfbereit neigen sie sich dem Bordstein zu, um den Schritt zu einem Kinderspiel zu machen. Das Geräusch dabei finde ich faszinierend. Dieses hydraulische Schnaufen, welches ich sehr charakteristisch finde.
Die Leute um dich herum im Bus reden nicht. Im Bus zu reden ist inzwischen beinahe so tabu wie in einem Fahrstuhl.
Hört das Mädchen im roten Herbstmantel den eigenen Schritt überhaupt, mit dem sie den Chor der Welt füllt, wenn sie über die Brücke geht?
Warum will es Gedanken hören, wenn es sich selbst nicht hört, sondern lieber der künstlichen Welt vergangener, gefangener Töne lauscht?