„Du gehst vorbei, mir ähnlich,
Augen, die nach unten sehen.
Ich senkte sie genauso!
Fremder, bleib doch stehen!
Lies – wenn du gepflückt
Den Strauß aus Arnika –
Dass man mich Marina nannte
Und wie alt ich war.
Denke nicht, dass hier – ein Grab,
und schrecklich ich erschiene …
Ich habe selbst zu gern gelacht
Wo andere nur weinen.
Und Blut floss in den Adern
Und meine Haare wehten …
Ich war genauso – Fremde!
Fremder, bleib doch stehen!
Und steh‘ nur nicht so düster,
den Kopf zur Brust gesenkt.
Leicht meiner vergiss,
Leicht meiner gedenk.
Wie das Licht dich erhellt!
Du bist ganz in goldenem Staub …
– Und, dass dich nicht erschrecke
meine Stimme von unter dem Laub.“
Sie flog mit den Schwingen im Schwanengewand
Auf Polarlichtern reitend herbei
Und ihr liebliches Singen erzählte dem Land
Dass es frei von der Finsternis sei
Halte die Schwingen, o Schwanenmaid
Noch ist es längst nicht soweit
Dass ein Ende in frostiger Fröhlichkeit fand
Jene frevelnde Tyrannerei
Also flog sie gen Norden im eisigen Licht
Schien so leuchtend und bunt ihr Gefieder
Weit hinfort von dem Morden, es kümmert sie nicht
Doch versprach sie einst „Ich komme wieder“
Kehre zurück, holde Schwanenmaid
Hilf uns in finsterer Zeit
Als das Dunkel vernichtendes Rachegericht
Senke Dich voller Schönheit hernieder
Und sie flog seltsam schaurig im fahlbleichen Schein
Der verblassenden Monde als Geist
Einer Sternschnuppe, traurig am Himmel allein
Deren Kommen nichts Gutes verheisst
Wehe uns, schreckliche Schwanenmaid
Nun bringst Du Grauen und Leid
Um ein Bote von jenen Äonen zu sein
Da der Frost alle Lande vereist
Liebe Marina,
das ist ein schönes Gedicht. Zu Zeiten der alten Römer hat man auf Gräbern Inschriften in elegischen Distichen hinterlassen, die z. B. anfingen mit: „Wanderer, bleib stehen und weine, wenn du noch Menschliches in dir hast usw.“
Dein Gedicht ist leichter als solche Epigramme, sowohl im Inhalt als auch in der Form.
Das lyrische Ich äußert keine Klage über ihren eigenen Tod. Es nimmt zwanglos Kontakt mit einem Fremden auf, der interessant erscheint, ohne sich aufzudrängen, zu drohen, zu jammern. Es scheint alles so anzunehmen, wie es nun einmal ist, und das empfinde ich als sehr sympathisch.
In der Form ist es wohl den Volksliedstrophen zuzuordnen, auch wenn zahlreiche Unregelmäßigkeiten eine Vertonung arg erschweren würden. Aber gerade diese Unbekümmertheit um ein festes Metrum sowie den reinen Reim tragen zu dem Eindruck von Leichtigkeit bei, den Du vermutlich erregen wolltest.
Was mir an Details aufgefallen ist, will ich gerne als Randbemerkung zu den entsprechenden Versen notieren.
“Du gehst vorbei, mir ähnlich,
Augen, die nach unten sehen.“
Die Blickrichtung ist programmatisch: dort sind die Blumen, dort ist das Grab
„Ich senkte sie – genauso!
Fremder, bleib doch stehen!
Zweimal wird die Gleichartigkeit zwischen lyrischem Ich und lyrischem Du betont. Das wirkt der Angst vor dem Unheimlichen der Geistererscheinung präventiv entgegen.
„Lies – wenn du gepflückt
den Strauß aus Arnika -“
Schön, denn lesen ist doppeldeutig und kann auch auflesen bedeuten. Sind die Blumen symbolisch gemeint? Was bedeuten Arnika?
„dass man mich Marina nannte,
und wie alt ich war“
Hier erst ist klar: Es spricht eine Tote. Aber sie stellt sich als erstes mit Namen vor, eine freundliche Geste. Die Bezugnahme auf die Jahreszahlen auf dem Grabstein kommt mir fast ironisch vor, kommt es doch darauf nicht wirklich an.
„Denke nicht, dass hier – ein Grab,
und schrecklich ich erschiene …
Ich habe selbst zu gern gelacht
Wo andere nur weinen.“
Dies wird sie vor allem nach ihrem eigenen Begräbnis getan haben, als alle um sie weinten und nicht wußten, wie gut sie sich in ihre Situation gefunden hat.
„Und Blut floss in den Adern
Und meine Haare wehten …“
warm, vielleicht von sanguinischem Temperament, und weiblich, mit offenen langen Haaren: Auch diese Attraktivitätsattribute lassen den Geist sympathisch erscheinen.
„Und ich war genauso – Fremde!
Fremder, bleib doch stehen!“
Empathie erleichtert die Kontaktaufnahme, siehe hierzu Anm. zu Str. 1
„Und steh’ nur nicht so düster,
den Kopf zur Brust gesenkt.“
…denn Marina lacht, wenn andere weinen…
„Leicht meiner vergiss,
Leicht meiner gedenk.“
‚Leicht‘ assoziiere ich auch mit ‚Vielleicht‘: Letztlich ist es Marina nicht so wichtig, sie muß nichts erzwingen oder fordern, vielmehr überläßt sie es dem Fremden, wie er mit der Begegnung umgeht.
„Wie das Licht dich erhellt!
Du bist ganz in goldenem Staub …“
Ist es das Sonnenlicht? Oder tut sich nun doch das Grab auf, und der Betrachter ist angestrahlt von dem blendenden Licht aus der Totenwelt? Ist der Wanderer nun selbst Staub? Dieser letzte Vers ist der einzige, mit dem ich meine Schwierigkeiten habe, weil das Verb „sein“ so wenig aussagekräftig ist. An Deiner Stelle würde ich es durch ein konkreteres Tätigkeitswort ersetzen – wenn Du denn noch an dem Text arbeiten möchtest, nachdem Du ihn so schön, mit heller, unbekümmerter Stimme aufgezeichnet hast.
„- Und, dass dich nicht erschrecke
meine Stimme von unter dem Laub.”
Nun, die Stimme, die ich da gehört habe, erschreckt gewiß niemanden. Sie singt ja einfach nur – Marinas Lied.
Gerne gelesen!
Herzliche Grüße,
Sigmar
ich geh vorbei dir ähnlich
augen die nach unten seh´n blieb ich erst steh´n
ein schmerz in mir
als würde ich verletzen
ich sah zu dir
ich seh dich an und will plötzlich verweilen
auch wenn ich fremd für dich erschien
so ist´s als kenne ich dich lang
sitz ich still an deinem grab
konnte nicht mehr stehen
alles was ich bei mir trag
möchte ich dir geben
sanfter wind streicht über dich
streift die zarten blüten
deine stimme dein gesicht
könnt ich sie nur hüten
meine hand legt sich zu dir
schließe meine augen
langsam langsam gibst du mir
meinen alten glauben
müde lege ich mich hier
müde von der reise
eine träne fließt von mir
vorsichtig und leise
fließt hinab in deine hand
legt sich auf ihr nieder
alles was sie suchen wollt
fand sie in ihr wieder