Mein Großvater las immer die Zeitung. Immer. Er hatte zwei Weltkriege überlebt, seine ganze Sippe vor dem Holocaust gerettet, und selbst in den späten 90ern las er immer noch jeden Tag die Zeitung. „Juden“, sagte mein Großvater, „sind das Frühwarnsystem einer Gesellschaft.“ Er hatte das Gefühl, immer informiert sein zu müssen, um die kleinste Störung, die kleinste Veränderung zu spüren.

Vielleicht verfolge ich deshalb die Nachrichten so. Vielleicht wurde es mir eingeimpft. Vielleicht betrifft es uns gerade aber auch alle. Während ich einige kenne, die ihre Neuigkeiten über Corona nur vom Robert-Koch-Institut beziehen, sitzen andere, wie ich, sehr viel auf Twitter und lesen internationale Nachrichten, um stündlich auf dem Laufenden zu bleiben. Es gibt einem das Gefühl, zu wissen, worauf man sich einstellen muss. Es gibt einem das Gefühl von Kontrolle. In einer Situation, die wir nicht kontrollieren können, die unser Leben verändert und die uns Angst macht. Wir verbringen also Stunden online, lesen Berichte aus aller Herren Länder und sind – wenn wir ehrlich sind – danach noch ängstlicher als vorher.

Wie viel Nachrichtenkonsum ist gut für uns?

Der Ort, den wir aufsuchen, um in unserer Erregung Ruhe zu finden, gibt uns noch mehr Erregung. Es ist ein Teufelskreis. Im schlechtesten Fall verbreitet die Illusion, wirklich gut informiert zu sein, bei uns Nervosität, Panik, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen. Das gilt natürlich nicht für alle. Manche fühlen sich wirklich besser, wenn sie wissen, wie diese oder jene europäische Stadt mit dem Virus umgeht, wo welche Regelungen in Kraft treten. Manch einer findet echten Trost darin, jede Prognose zu kennen. Das gilt aber nicht für alle.

Porträtfoto von Marina Weisband (Lars Borges)Marina Weisband (Lars Borges)Marina Weisband wurde 1987 in der Ukraine geboren und kam 1994 als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Die Schwerpunkte der Autorin und Diplompsychologin sind Partizipation und Bildung. In ihrem Buch „Wir nennen es Politik“ schildert sie Möglichkeiten neuer politischer Partizipation durch das Internet. Seit 2014 leitet sie bei politik-digital.de das aula-Projekt zur Demokratisierung von Schulen.

Den meisten Menschen tut es gut, Nachrichten in Maßen zu konsumieren. Eine gute Strategie ist zum Beispiel, sich jeden Tag feste Zeitpunkte dafür zu wählen. Und dann Nachrichten immer aus denselben Quellen zu beziehen. Zum Beispiel, jeden Tag den NDR-Podcast mit Christian Drosten, die „Tagesschau“ und aktuelle Infos vom Robert-Koch-Institut. Darüber hinaus tut es gut, den Kopf für andere Dinge frei zu haben.

Diejenigen von uns, die ehrenamtlich Hilfsstrukturen organisieren, haben nicht den Luxus, uns viel ablenken zu können. Wir müssen jeden Tag die Hand auf dem Puls halten, telefonieren ständig mit Menschen nur zu diesem einen Thema und bewegen uns ganz in der Corona-Welt. Diese Menschen schöpfen ihre Kraft aus einer anderen Quelle. Es ist der Trost, aktiv etwas tun zu können. Denn Ohmacht löst Stress aus. Die Welt der ehrenamtlichen Hilfe ist eine Welt voller erstaunlicher Menschen, die mit unglaublicher Kraft kämpfen und solidarisch mit einander sind. Wenn man mit den richtigen Menschen auf Twitter oder in den richtigen Facebook-Gruppen aktiv ist, erlebt man so viel Menschlichkeit und Zusammenhalt wie zu keiner anderen Zeit.

Das Internet kann Wärme und Hoffnung geben

Diese Wärme gibt Hoffnung. Und Hoffnung ist, was wir brauchen. Wenn Sie sich mit den Zahlen, mit den Maßnahmen, mit den Gefahren auseinandersetzen – tun Sie dies nicht allein. Das Internet besteht aus Millionen von Menschen, die in der gleichen Situation sind und ihr mit Edelmut begegnen.

Etwas, was ich während des Krieges in Israel 2012 erlebt habe, während der Demonstrationen auf dem Maidan und auch jetzt wieder: Das Einzige, was schneller ist, als schlechte Nachrichten, sind die Witze darüber. Innerhalb weniger Stunden zirkulieren Memes, T-Shirts, lustige Bilder zu dem Thema, das alle beschäftigt. Das ist etwas Gutes, auch wenn es manchem unangemessen erscheinen mag – Humor gibt uns die Möglichkeit, etwas auszusprechen, was vorher in uns aufgestaut war. Worüber wir lachen, davor haben wir keine Angst.

Wenn mein Großvater mir neben Aufmerksamkeit noch etwas anderes beigebracht hat, dann war es, was Liebe und Gemeinschaft zählen. Jetzt gilt es solidarisch, freundlich, humorvoll und hilfreich zu sein. Viel Kraft und Liebe Ihnen allen.

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Source: Medienkonsum in Corona-Zeiten – Hoffnung dank Social Media