Der folgende Text war ursprünglich ein Thread auf twitter und ist ein Versuch, euch aus meiner sowjetisch-russischsprachig-ukrainisch-jüdischen Perspektive Russland zu erklären(TM). Vorausgeschickt sei, dass ich die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen habe und das bestimmt nur ein Blickwinkel ist.

Wir sehen derzeit viele Russen auf den Straßen russischer Städte in heldenhaftem Protest gegen den Krieg. Navalnyj sagte „Wenn wir mit unseren Körpern deren Gefängnisse verstopfen müssen, dann machen wir das eben“. Warum gibt es diese starke Bewegung und gleichzeitig so viele Russen, die Putins Krieg unterstützen? So viele, die sogar ihre Autos jetzt mit dem „Z“ dekorieren, um ihre Unterstützung zu bekunden? Was bewegt diese Menschen?

Putin hat diesen Krieg acht Jahre lang medial vorbereitet. Hauptsächlich über das Fernsehen, woher die meisten Russen noch immer ausschließlich ihre Nachrichten beziehen. Acht Jahre lang wurden Kiewer entmenschlicht, es wurde ein Genozid an russischsprachiger Bevölkerung herbeigedichtet und eine faschistische Regierung. Warum faschistisch? Weil das bei Russen ein klares und emotional eindeutiges Feindbild kodiert. Man ist gegen Faschismus. Das war Opa schon. Das ist absolut klar. Dessen bedient sich jetzt Putin, dessen eigener Staatsapparat zunehmend faschistische Züge trägt.

Aber diese Propaganda fällt auch auf fruchtbaren Boden. Ihr müsst betrachten: eigentlich seit dem 13. Jahrhundert lebten sämtliche Generationen in Russland in Knechtschaft. Sie wurden in Knechtschaft geboren und starben in Knechtschaft. Sei es das zaristische Regime mit der Leibeigenschaft oder der Stalinismus. Persönliche Würde war einfach kein Ding. Meine Mutter erzählte mir gestern: „Ich habe, als ich nach Deutschland gekommen bin, fünf Jahre gebraucht, um zum ersten Mal sowas wie Selbstwert zu fühlen. Davor hatte ich keine Vorstellung, was das ist.“ Was bedeutet das? In der Sowjetunion war der Mensch staub. Er wurde als Staub geboren. Im Geburtshaus der Mutter entnommen und fünf mal am Tag zum Füttern gebracht. Mütter lagen in 20-Bett-Zimmern. (Diese Erfahrung ist aus einem konkreten Kiewer Geburtshaus, falls jemand andere hat, bitte drunter schreiben.)

Menschen wurden behandelt wie Staub. Selbst in Geschäften und auf dem Markt meist unfreundlich. Sprichwort: „Der sowjetische Dienstleistungssektor ist unaufdringlich. Wenn Sie nicht wollen, können Sie zur Hölle fahren“. Ich habe die Nachwehen dessen noch mitbekommen, als die letzten sowjetisch eingestellten Verkäufer mich angeschnauzt haben, wenn ich zu lange Blumen betrachtet habe. Sie haben sich im freien Wettbewerb irgendwann nicht mehr gehalten. (Seltsam.)

Wo Menschen Staub waren, hielten sie sich schon immer an etwas, das größer war, als sie selbst. Die Idee Gottes. Die Idee des Imperiums. Die schiere Größe des Landes und seines Geistes, wo das eigene Leben klein und unbedeutend war. Darum war Glaube ein enorm wichtiges Ding. Dann kam die Revolution. Der Glaube wurde effektiv verboten. An seine Stelle trat der Glaube an Kommunismus. Eine Art Ersatzreligion. Manche folgten dem mit vollem Eifer. Manche spielten einfach mit („Wir tun so, als ob wir arbeiten und sie tun so, als ob sie uns bezahlen.“). Es war dennoch immer etwas, das größer war, als die Menschen selbst. Sie waren machtlos und es gab keine Kultur um eine individuelle Würde. Selbst in meiner Dissidentenfamilie musste man anerkennen, so schlecht die Dinge auch waren: unsere Wissenschaftler waren groß. Unsere Leute haben einen Menschen ins All gebracht. Unsere Kultur war voll von schönen Ritualen mit Blumen und allem.

Und dann kamen die 90er. Das System bracht zusammen zugunsten „westlicher Werte“. Und wie kamen diese Werte in Russland an? Erstmal als Raubbau am Land. Alles, was vorher staatlich war, wurde privatisiert. Und privatisiert hieß: zusammengeklaut. Menschen brachten unfassbare Bestechungssummen in die Kreditabteilungen der Banken und kauften alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Einige (u.A. Putins Klüngel) wurden zu Milliardären. Andere blieben mit nichts zurück. Plötzlich war keine Gewissheit mehr im nächsten Tag da. Teilweise fielen Menschen buchstäblich in Ohnmacht vor Hunger. In meiner Familie gibt es eine ganze Sage darum, wie meine Oma einst auf dem Markt drei Pfirsiche ergatterte und ich sie mir tragisch über den zweijährigen Bauch verschmierte, statt ihre wertvollen Vitamine zu essen. Menschen, die nicht gut lebten, aber immerhin absolut sicher waren, wo sie in einem Jahr sein würden, waren plötzlich bar jeder Orientierung. Es war verwirrend und entmutigend und demütigend. Der Wohlstand des Westens war wenigen vorbehalten. Für die meisten war es ein tatsächlicher Zusammenbruch. Und Menschen, die ihren Wert daraus gezogen hatten, was größer war, als sie selbst, hatten plötzlich nichts mehr.

Von hier verstehen wir, warum die Kirche so schnell und so mächtig zurück kehrte. Warum Stalin neuerdings wieder so einen guten Ruf genießt. Warum Putin mit seinen imperialistischen Phantasien so gut bei den Leuten ankommt. Warum Menschen mitgehen, wenn er sagt: „Der Westen ist schwach und dekadent und wir holen uns jetzt unsere Völker nach Hause.“ Denn die wahre Tragik ist: das Land, das die Russen für ihren Bruder halten, hat es geschafft aus dieser Spirale von Knechtschaft auszubrechen. Die Ukrainer haben ihren Selbstwert wieder gefunden. Ihre Würde. Sie haben sich auf diesen westlichen Weg gemacht, in dem sie selbst bestimmen wollten, wer ihr Präsident ist und was er tut. („Er ist ein korrupter Präsident, aber er ist UNSER korrupter Präsident“). Sie wollten nicht in der Hauptstadt anrufen, wenn die Mülltonne im Hof kaputt gegangen ist, sondern haben sich selbst organisiert. Das war auf dem Maidan schon sehr stark zu sehen. Und natürlich hängt das auch damit zusammen, dass die Ukraine – gerade im Westen – historisch aus einer vollkommen anderen Tradition kommt. Das Kosakentum war schon immer selbstbestimmter. Aber es ändert nichts daran, dass die Ukraine ein lebendiges Beispiel dafür war, dass es auch anders gehen kann. Dass auch Slaven eine Demokratie haben können. Und das ist Putin gefährlich.

Die Menschen folgen ihm nicht, weil sie selbst keine Demokratie wollen. Sie folgen ihm, weil sie gar keine Vorstellung haben, was das ist. Tragisch ist die Situation für die Ukraine, aber auch für jene Russen, die das alles sehen, verstehen und trotzdem weitestgehend machtlos sind und zu tausenden auf den Protesten verhaftet werden.

Ich hoffe, das hat euch einen kleinen Einblick gegeben. Ich nehme gern Ergänzungen und Quellen als Bereicherung an. Und bitte pöbelt keine random Russen an.