„Oooch, nicht schon wieder Antisemitismus“, höre ich den imaginären Leser seufzen. „Es gibt doch wirklich wichtigere Themen, als allem und jedem Antisemitismus zu unterstellen.“

„Nein, das ist jetzt wirklich wichtig, Leopold. Bitte beschäftige dich mal 5 Minuten hiermit, weil es um viel geht“, antworte ich dem imaginären Leser (der Leopold heißt).

Nachdem ich heute in Münster ein Wahlplakat der „Deutschen Mitte“ habe hängen sehen und per Twitter daraufhingewiesen habe, dass dieses Plakat antisemitisch sei (die weltumspannende Krake, mit „Finanzkartell abschaffen“) hatte ich etwa 13463195 Mentions. Die meisten von ihnen klangen so: „Was ist an diesem Plakat bitte antisemitisch!?“. Also habe ich die Plakatreihe oben gepostet, mit den Stürmer-Karrikaturen, die ihnen als Vorlage dienten. Die meisten meiner Follower haben das daraufhin auch verstanden. Viele verstehen aber weiterhin nicht, warum eine Kritik am Thema Finanzkartell antisemitisch sein soll und was die Krake mit Juden zu tun hat.

Ich muss mich privat sehr viel mit Antisemitismus beschäftigen. Nicht weil ich mir das ausgesucht hätte, nicht weil es spannend ist, sondern weil ich einfach nicht drumrum komme. Ich werde sozusagen jeden Tag mit der Nase reingeschubst. Deshalb habe ich viel gelesen, was möglicherweise nicht allgemein bekannt ist. Ich möchte heute für den geneigten Leser ein Phänomen zusammenfassen: den strukturellen Antisemitismus in der Kapitalismuskritik. (Obacht, dies ist eine Zusammenfassung, deshalb ist vieles verkürzt.)

 

1) Antisemitismus hat nichts mit Religion zu tun.

Da Juden sich auch selbst nicht nur als Religionsgemeinschaft, sondern auch als Volk verstehen, kann Antisemitismus beispielsweise auch getaufte oder atheistische Juden betreffen. Vergleiche mit Christentum oder Buddhismus führen hier in die Irre. Es ist wichtig, das vorneweg auszuräumen.

(Und wenn du, Leopold, jetzt hier darauf eingehen willst, dass zu der Sprachgruppe der Semiten ja auch Muslime gehören…….. hör mal, Leopold. Wenn du dich nicht auf gängige Definitionen unserer gemeinsamen Sprache einlassen willst, dann knaubel trölf bläm.)

2) Kapitalismuskritik war historisch antisemitisch geprägt

Und das war kein Zufall. Da Juden in Europa sowohl die Ausübung handwerklicher Tätigkeiten, als auch der Besitz von Land über die längste Zeit untersagt war, Geldleihen aber im Gegensatz zu Christen erlaubt, assoziierte man Juden seit dem Hochmittelalter mit Geldgeschäften, Zinsen und Kapital.  Bei Marx sind zwar auch – insbesondere in seiner Schrift über die „Judenfrage“ – antisemitische Positionen zu finden; aus seiner Theorie allein lässt sich aber kein geschlossener Antisemitismus ableiten. Silvio Gesell stellte 1911 eine Wirtschaftstheorie auf, in der er „schaffendes“ und „raffendes“ Kapital von einander trennte und unterstellte, die Juden säßen auf einem Pott raffenden Kapitals durch Zinsen. Die Kritik am Kapitalismus war antisemitisch sowohl links (die russische Revolution ging mit massiven Pogromen gegen Juden einher) als auch von rechts (diese Geschichte mit dem dritten Reich).

3) Kritik am Kapitalismus ist nicht gleich strukturell antisemitische Kapitalismuskritik

Die Kritik am „raffenden Kapital“, oder am „Finanzkartell“, wie es im Plakat oben so schön heißt, hat sich seit dieser Zeit nicht geändert. Es wird von einer mächtigen Gruppe ausgegangen, die all das Geld rafft und uns arme, kleine, machtlose Bürger um unseren ehrlich verdienten Lohn betrügt. Während es absolut richtig ist, das kapitalistische System, Ungerechtigkeiten in der Welt, Kluft zwischen Arm und Reich und Ausbeutung zu hinterfragen, gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen dieser Kritik am Kapitalismus und dem Aufbegehren gegen ein „Finanzkartell“: Letzteres geht davon aus, dass die Ausbeutung irgendwo zentral  geplant ist, „verschworen“. Darum ja auch die Krake: viele Arme, die von überall her in der Welt ihren Einfluss nehmen, aber nur ein Kopf!

Der strukturell antisemitischen Kapitalismuskritik haftet immer ein verschwörungstheoretisches Element an. Sie geht immer davon aus, dass es eine Gruppe von Menschen gibt (die Banker, die Rothschilds, das Finanzkartell), die man nur entsorgen müsste, damit die Welt eine bessere und gerechtere wird. Sie leugnen, dass Kapitalismus ein Zustand ist, in dem wir uns alle befinden und zu dem wir alle mit unserer Arbeit und unserem Konsum beitragen.

Das führt mich zu meinem wichtigsten Punkt:

4) Es muss nicht „Jude“ draufstehen.

Was ist an einer Kritik an einem ominösen Finanzkartell, oder an Bankern antisemtisch? „Du bist selbst antisemitisch, wenn du raffende Banker für jüdisch hälst“, habe ich heute in den Kommentaren gehabt. Aber nein. Etwas muss nicht offen gegen Juden gerichtet sein, um strukturell antisemitisch zu sein. Struktureller Antisemitismus bedeutet, dass man eine Kultur schafft, eine Erzählung, in der unzufriedene und ausgebeutete Menschen glauben, dass eine Macht, eine Gruppe von Menschen, für ihr Unglück verantwortlich ist und sich davon ernährt. Diese Gruppe Menschen bespielt mit dem vielen Geld, das sie rafft, die Medien und kontrolliert öffentliche Wahrnehmung, um nicht aufzufallen. Wenn man aber ihre Spiele durchschaut, wenn eine kritische Menge ehrlicher, guter Menschen sie stürzt und sich ihrer entledigt, können Menschen frei und in Frieden von ihrer Hände Arbeit leben. Diese Erzählung bietet sich immer gut an als Reaktion auf Globalisierung und Ungerechtigkeit an. Man kann eine kritische Anzahl Menschen dafür entflammen.

Und dann reicht es, mit dem Finger auf eine Menschengruppe zu zeigen, um sie zu identifizieren.

Nur ein Idiot sagt im Wahlkampf 2017 in Deutschland: „Wir sind gegen Juden“. Aber es ist sehr möglich, unterschwellig antisemitische Motive zu bedienen und Stürmer-Karrikaturen zu zitieren und gegen „die da oben“ zu hetzen, um dann, im entscheidenden Moment zu sagen: „es sind übrigens die Zuckerbergs und Soros dieser Welt“.

5) Die weltumspannende Krake wird leider immer antisemitische Konnotation tragen

Ich hatte oben schon erwähnt, warum die Krake ein an sich verschwörungstheoretisches Tier ist: sie hat viele Arme, die sich um die ganze Welt winden, die an allen Hebeln ziehen – aber sie hat einen Kopf. Ausbeutung ist kein komplexer Mechanismus, sie ist geplant, von einer einzigen Entität, die getötet werden kann. Wenn die Krake zu anderen Zwecken benutzt wird (wie ACTA oder die Datenschutzkrake ) ist sie nie ganz unproblematisch. Natürlich kann man für seine legitimen Inhalte antisemitische Karrikaturen zitieren – aber dann ist es halt doof. Dann kommen halt Sachen zusammen wie diese Datenschutz-Krake, die schon wieder das Gesicht des Juden trägt:

Antisemitische Facebookkarrikatur

Andere Tiere, die in diesem Zusammenhang beliebt sind, sind beispielsweise auch die Schlangen. Weil sie sich einschleichen und uns schlimme Dinge einflüstern. Außerdem können Schlangenmenschen ja auch die Form von normalen Menschen annehmen und sind dadurch nicht zu erkennen. Sogar dazu gibt es Verschwörungstheorien, aber daran glauben nicht so viele, wie an den bösen Juden. Aber die sehen halt auch aus, wie normale Menschen…

Es klingt vielleicht schwer zu glauben, dass die unglaublich altbackene Mode der Judenfeindlichkeit immernoch so präsent sein soll oder wirklich befürchtet werden muss. Aber ich begegne dem jeden Tag und weiß, dass unter einer ruhigen Oberfläche erschreckende Abgründe gibt. Es gab ein wunderschönes Video auf Youtube, wo anhand meiner Augen bewiesen wird, dass ich selbst ein reptiloider Hybrid bin. Das ist leider gelöscht und für die Nachwelt verloren.

Also weil ein Teil von uns tatsächlich mit gewisser Hintergrundangst lebt – nehmt euch bitte 5 Minuten, um über solche Sachen nachzudenken. Und zitiert vielleicht nicht den Stürmer.

Hier gibt es eine etwas ausführlichere Quelle zum Thema