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Sehr geehrte Menschen,  

es war eine sehr schwere Aufgabe, eine Rede für heute zu schreiben. Weil ich keine Überlebende bin. Weil ich eine Nachfahrin der Überlebenden bin. Weil ich als Brücke zwischen den Generationen sprechen muss. Zwischen jenen wenigen, die noch bei uns sind, und allen, die das Grauen der Abwertung des Menschen nie erlebt haben. Ich selbst kenne es nur aus Erzählung, aus Schweigen, aus einem beinahe epigenetisch vererbten Schreck, mit dem ich aufgewachsen bin. Aus den Bruchstücken meiner eigenen Identität, irgendwo zwischen jüdisch, russisch, ukrainisch, deutsch, verstreut in alle Winde. Mühevoll studierend, was meine Familie mal ausgemacht hat, worüber mein Großvater schwieg. Was meine Religion ist, was meine Rituale sind. Ich traue mich nur, das hier zu erzählen, weil es so vielen in meiner Generation der Nachgeborenen so geht. Ich bin schon verwirrt, wenn man mich nach meiner Heimat fragt. Nach meiner Identität. Wie sollen wir mit der Verantwortung umgehen, für die Toten zu sprechen? Für unsere Vorfahren? Genau diese Bürde nehmen mehr und mehr von uns an, je mehr der Überlebenden von uns gehen und nicht aus erster Hand mahnen können. 

Ich habe lange gehadert, diese Rede zu schreiben. Und dann habe ich die Rede geschrieben, die ich NICHT hier halten werde. Es war die erwartbare, anzunehmende Rede. Über die Schrecken des Faschismus und über die Mahnung zur Verantwortung und über lebendiges Gedenken und darüber, wie „Nie wieder“ jetzt ist. Aber Sie kennen diese Sätze alle schon. Ich kenne sie alle. Ich habe in der Schule jahrelang alles darüber gelernt. Auch wir haben Gedenkstätten besucht. 

Und heute stehe ich da und frage mich – hat das alles eigentlich funktioniert? Wieviel haben wir wirklich gelernt, wenn wir heute Faschismus nicht erkennen?  

Falls Sie Sorge haben, dass ich auf einer Gedenkveranstaltung politisch werden könnte: ich werde politisch. Das hier ist politisch. Schon immer. Ich würde meine demokratische und meine menschliche Pflicht gegenüber allen Opfern verfehlen, wenn ich gerade hier nicht klar politisch werde. Wir erleben den Aufstieg eines internationalen Faschismus. Zum Beispiel auf das System in Russland und zunehmend auf die USA lassen sich sämtliche wissenschaftlichen Definitionen des Faschismus anwenden. Das zu erkennen und auszusprechen ist genau der Widerstand, zu dem auf solchen Gedenkveranstaltungen immer gemahnt wird und ich will ihn leisten. Wir stehen hier WEIL wir wissen, wohin es führt, wenn man verschiedenen Menschen verschiedene Würde zuschreibt. Wenn man unerwünschte Identitäten definiert. Wenn man den Rechtsstaat zerstört. Das unermessliche Leid des hier erlebten IST unser Mahnmal und es ist die Aufgabe meiner Generation, laut darüber zu sein. 

Und ist es nicht bigott, hier zu mahnen und mit dem Finger auf Russland oder die USA zu zeigen, während auch wir uns im Wahlkampf primär damit befasst haben, wen wir alles abschieben können? Wenn wir auf der Schwelle stehen, wieder zwei Klassen der deutschen Staatsbürgerschaft einzuführen? Die einen, die sie ganz selbstverständlich haben dürfen, und die anderen, wie ich, mit Migrationsgeschichte, die Sorge haben müssen, sie zu verlieren für das genau gleiche Vergehen? 

Die Unsicherheit unserer ökonomischen und ökologischen Zukunft, die auf Negativität fokussierten Massenmedien und zündelnde Onlineplattformen, die um unsere Aufmerksamkeitsspanne buhlen, treiben uns als Gesellschaft in eine kollektive Raserei, in der wir wieder nach Freund und Feind suchen. Und den Feind im Inneren finden. Und glauben, wenn wir nur aggressiv genug gegen „ihn“ sind, dann wird es „uns“ besser gehen. Oder warum überboten sich fast alle Parteien darin, wer am besten abschieben kann? Wir wissen, wo diese Geschichte endet! Wir haben das gelernt! Und was tun wir? Mahnen. 

Wir sagen, wir wollen gegen Faschismus kämpfen. Klar. Sagt jeder. Aber man will auch der amerikanischen Regierung nicht vor den Kopf stoßen. Also wiederholt man ihre Unwahrheiten. Und wenn die deutsche Bevölkerung durch genug Rassismus in Talkshows aufgepeitscht ist… dann muss man den Wähler ja auch dort abholen, wo er steht. Und wenn mein Job bedroht wäre, wenn ich etwas sage, dann schweige ich lieber. DAS ist, wie Faschismus an die Macht kommt.  

Wir sagen kämpfen – aber was ist dieses Kämpfen eigentlich? Und wann beginnt es? Faschismus wird nicht erkannt, weil wir insgeheim damit rechnen, dass sich am Ende der Demokratie irgendwie die Filmmusik verändert. Der Himmel sich bedrohlich grau zuzieht. Dass Banner ausgerollt werden. Aber das passiert nicht. Wenn der Faschismus kommt, scheint noch immer die Sonne. Die Vögel singen. Sie gehen zur Arbeit. Alles ist normal. Nur trans Menschen verlieren ihre Rechte. Und Asylsuchende. Und Immigranten. Und Behinderte. Und Muslime. Und Juden. Und linke Journalisten. Und dann andere Journalisten. Und ich. Und Sie. Und niemandem ist mehr klar, wann es eigentlich zu spät wurde.  

Und weil der Übergang so weich ist und wir den Faschismus so sehr nicht in unserer Zeit wollen, wiegeln wir ab, beschwichtigen, „das ist ja alles nicht so gemeint“, „so schlimm wird es nicht“. Dafür stehen wir hier. Um zu sagen: „Es wurde schon einmal so schlimm. Und das heißt, es kann so schlimm werden.“  

Es ist schwer, heute gegen Faschismus zu kämpfen. Weil man gegen eine Wand aus Ignoranz, Opportunismus, Gewohnheit und wohlgemeinter Naivität läuft. Zitate von Rechtsradikalen? Geben wir als Medienhäuser wieder, man muss ja objektiv berichten über das, was ist. Und dann müssen wir sie zwecks Ausgewogenheit in Talkshows einladen. Verbotsverfahren prüfen? Nein, wir müssen den Gegner politisch stellen. Das war übrigens auch die Einstellung der Konservativen 1930, die die SPD-Bestrebungen um ein Verbot der NSDAP damit ablehnten. Faschismus lebt von diesem Weiter-so. Vom Opportunismus. Von vorauseilendem Gehorsam. Von Wegsehen. 

Wissen Sie, ich bin es leid, nur zu kämpfen. Dieser Kampf, Gut gegen Böse, der narrativ heraufbeschworen wird, während Institutionen einfach auf ihren eigenen Vorteil orientiert handeln… ich glaube, ich habe keine Lust mehr auf diese Geschichte. Es ist immer die Rhetorik der Eroberung, der Unterwerfung. Besiegst du mich oder besiege ich dich? Ich glaube, schon diese ganze Geschichte ist eigentlich eine Geschichte des Faschismus.  

Ich will nicht kämpfen. Ich will lieben. Ich will neugierig auf meine Mitmenschen sein. Ich will zuhören. Ich will empathisch sein. Ich will nicht in Konkurrenz stehen, sondern zusammen großartige Dinge bauen. Damit können Nazis nicht umgehen.  

Aber ich kenne so viele Geschichten, wie die Menschen hier überlebt haben. Wenn wirklich nichts anderes blieb, als sich an seiner nackten Menschlichkeit festzuhalten. Dann blieben die Geschichten. Dann blieben die Lieder und die Gebete. Der Einsatz für andere. Die Solidarität. Sie blieben, ohne Ressourcen, in einem Umfeld von Mangel und Gewalt und dem gezielten Raub der Menschlichkeit. Nur in der faschistischen Geschichte sind diese Menschen bloße Opfer. Ihre wahre Stärke kann der Faschismus nicht erkennen. Aber es ist Zeit, dass wir sie anerkennen. 

Die sanfte Radikalität der Freundlichkeit im Angesicht von Gewalt. Die tausend Akte des Widerstands, die sich hier ereignet haben. Sie sagen uns die ganze Zeit, was wir zu tun haben. Wir haben es nur bisher nicht gehört und nicht gesehen. Wir müssen uns aus dem Glauben an wertvolle und weniger wertvolle Menschen befreien. Aus der Sucht nach Status und Dynastie und Feinden. Aus dem „Wir“ gegen „Die“. Das ist vielleicht die schwerste Übung von allen. Denn wir alle sind mit der Gewalt der Vergangenheit aufgewachsen und von ihr geprägt. Waren irgendwo Opfer und wurden irgendwo zu Tätern. Und müssen lernen, uns selbst zu lieben. Und dann unseren Nachbarn. Und dann müssen wir lernen, für unsere Nachbarin eine Suppe zu kochen und spontan vorbeizubringen. Und uns mit der Mietgemeinschaft zu vernetzen. Und einen Park für Kinder zu gestalten. Und uns in der Gewerkschaft zu engagieren. Und mehr und mehr Netzwerke zu bauen, die resilient sind. Und solidarisch. Und sich gegenseitig beschützen. Wir müssen Demokratie nicht einfach nur verteidigen, wir müssen sie ausbauen! Jeden einzelnen Menschen darin als wertvollen Experten anerkennen, als gebraucht und bereichernd. Und wie passt das dazu, Nazis zu bekämpfen? 

Ganz einfach. Ich liebe meinen Nächsten. Und wenn jemand ihn angreift, werde ich zur unüberwindbaren Mauer. Mein Großvater hat mit der Waffe dafür gekämpft, die Konzentrationslager zu befreien. Und ich würde das im Zweifel auch tun. Aber ich will es nicht so weit kommen lassen. Menschen will ich mein Herz weit öffnen. Aber ich stehe zwischen ihnen und menschenverachtendem Gedankengut. So verstehe ich meinen Platz. Nicht gegen das kämpfend, was ich hasse, sondern das beschützend, was ich liebe. Und ich will diese Fähigkeit den Kindern beibringen, mit denen ich arbeite. Nicht nur eine feste Mauer zu sein – sondern ihre Festigkeit genau daraus zu ziehen, dass sie sich und andere lieben können. 

Und ich weiß, viele von Ihnen mögen das für unglaublich naiv halten. Liebe. Das ist vor dem Hintergrund der Nachrichten heute scheinbar so ein unpassendes, unverwandtes Wort. Aber ich halte es für naiv, dass wir Faschismus bannen können, wenn wir uns selbst und andere nicht zu lieben lernen. Und klar – ich arbeite heute mit Jugendlichen und bringe ihnen Verantwortung und Miteinander und Demokratie bei. Wie soll das verhindern, was Trump und Musk und Putin heute schon planen?  

Ich verrate Ihnen etwas anderes, was ich von den Überlebenden gelernt habe. Selbst wenn morgen das Schlimmste passiert – wenn meine ganze Welt zusammenbricht und ich alles verliere – wird es doch auch ein Übermorgen geben. Und übermorgen wird die Welt irgendwie weiter gehen. Mit mir oder ohne mich. Aber dann will ich etwas darin hinterlassen. Den Traum von dieser Welt, in der wir keine Gewalt mehr vererben und uns nicht im ständigen Kampf sehen. Ich will die Saat darum heute in den Boden säen. Selbst wenn ein Waldbrand kommt. Dann ist es meine Aufgabe, sie so zu vergraben, dass sie danach keimen kann.  

Vielleicht müssen wir morgen nur überleben. Damit wir übermorgen blühen können. 

Aber ich bitte Sie von Herzen – für alle, die hier starben, und überlebten, und die nachgeboren sind – lassen Sie es nicht dazu kommen, dass es morgen wieder ums Überleben geht.